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Dann wurde in den Cafés plötzlich viel Deutsch gesprochen, auch Flämisch, auch Französisch und das reine Kastilisch der Spanier, das sich meilenweit von den weichen Vernuschelungen der Kubaner absetzte. Neue Schiffe waren gekommen mit Emigranten, Schiffe aus Lissabon, manche aus Casablanca oder Tanger. Die Wellen, die der Vormarsch der Deutschen in Frankreich schlug, hatte sie von Südfrankreich aus über die Pyrenäen gejagt. Manche der Emigranten waren schon im vierten Emigrationsland, über Prag nach Paris geflüchtet, in den Süden Frankreichs getrieben worden, von dort nach Lissabon, sie hatten ein Schiff ergattert, das Europa hinter sich ließ. Emigranten der ersten Stunde, mit dem Stolz der politischen Verfolgung, die rassische Verfolgung nahmen sie achselzuckend zur Kenntnis. Manche wirkten wie hohl, leergepumpt, als sei es ihnen vollkommen gleichgültig, auf welcher Insel sie gelandet waren. Ein Berliner Ehepaar hatte eine Bäckerei gegründet: La flor de Berlin, die reichlich Zuspruch fand, denn sie buken keine übersüßen Zuckerbäckertorten, wie sie prunkvoll über die Gassen getragen wurden, keine Hochzeitstorten, sondern knuspriges braunes Brot, nicht die weißen, weichen Lappen, die die Kubaner aßen. Sie kannten nichts anderes. Das Paar war einfach zu beschäftigt, um den anderen Emigranten zu erzählen, auf welchem abenteuerlichen Weg es Havanna erreicht hatte. Der Mann schwitzend und mehlbestäubt im hinteren Teil der Bäckerei, die Frau, danke und bitte und kommen Sie bald wieder sagend hinter dem Tresen, der ihr nur bis zur Hüfte ging.

Kornitzer freundete sich mit Lisa Ekstein und Hans Fittko an, einem schlanken, dunklen Paar, die beide ein gutes Stück jünger waren als er. Er sah ihnen gerne zu, einem stolzen Liebespaar, ja, er beneidete sie um ihre Gemeinschaft, und sie respektierten ihn. Es war eine hoffnungsvolle Freundschaft, sieben Jahre Altersunterschied waren ein Unterschied ums Ganze. Während er promoviert hatte, lebten sie mit ihren Freunden in einer Welt des aktiven Widerstands, und sie betrachteten Antisemitismus und Rassismus als eine der Erscheinungsformen des Faschismus. Sie kamen mit der Haltung nach Kuba: Was kann schon passieren, wenn man bereit ist, jede Arbeit zu tun? Daß es (zunächst) keine Arbeit für sie gab, daß sie keine Arbeitserlaubnis hatten, war kränkend, man mußte sich die Arbeit, die man tun wollte, selbst erfinden. Manchmal stritt sich Kornitzer im Café Aire Libre an der Ecke des Paséo ein bißchen mit ihnen über ihren grundsätzlichen Optimismus, und sie warfen ihm vor, daß er wie viele jüdische Emigranten die Verfolgung als etwas Persönliches aufgefaßt habe. Dagegen war nichts zu sagen. Beiläufig erwähnte Hans Fittko einmal, er sei gar kein Jude. Vom Sozialistischen Schülerbund über die Solidarität mit den Arbeitern im Wedding, in Adlershof beim Blutmai, bei dem fast vierzig Menschen zu Tode kamen, führte der gerade Weg für Lisa über das Flugblattverteilen gegen Hitler nach der Schule (andere Eltern hätten bekundet, demonstrierende Arbeiter, erschossene Arbeiter seien kein Umgang für ihre Tochter) und dann die Erstellung von Listen über die in die Konzentrationslager Verschleppten heraus aus Deutschland. Lisa Ekstein folgte ihren Eltern über die Grenze nach Prag — ihr Vater war der Verleger der Zeitschrift „Wage!“, er war mit Egon Erwin Kisch befreundet —, und ebenso folgerichtig war es, daß sie sich mit dem jungen Journalisten Hans Fittko zusammentat, der flüchten mußte, weil man ihn der geistigen Urheberschaft an einem Mord bezichtigt hatte. Ein SA-Mann war unter unklaren Umständen zu Tode gekommen, der war allerdings von seinen eigenen Kumpanen hinterrücks erschossen worden. Der Wagemut war Lisa vererbt worden. Hans Fittko, der schmale, ernsthafte junge Mann, war in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Lisa und Hans gehörten zusammen, arbeiteten auch in der Tschechoslowakei illegal, bis man Hans auf Lebzeiten auswies. Sie arbeiteten dann in der Schweiz, versorgten ganz Baden und Württemberg mit antifaschistischer Literatur. (Schnitt Lisa, wenn sie erzählte, nicht ein bißchen auf?) Dann arbeiteten sie in Holland an der friesischen Küste und versuchten, Stützpunkte zu errichten, was schwer, wenn nicht unmöglich war. Bei Ausbruch des Krieges waren sie in Frankreich, und Frankreich wurde eine Falle. Was immer Lisa und Hans Fittko ihm erzählten, über die letzten sieben, acht Jahre ihrer Illegalität, Kornitzer staunte es an, wollte mehr hören. (Hatte er auf einem anderen Planeten gelebt?)

Nach dem Einmarsch der Deutschen trieb sie der Flüchtlingsstrom nach Südfrankreich, dort wurden sie interniert. Lisa war mit zwei Freundinnen aus dem Lager Gurs getürmt. Was sie Kornitzer zuraunte über die Trampelpfade in den Pyrenäen, über das Schmuggeln von sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, einem Philosophen, von ganzen Familien, von Leuten, die sich vor dem Tagesmarsch über das Gebirge nicht von ihrem Pelzmantel trennen wollten, hielt er auch für ein wenig übertrieben, aber er hörte ihr gerne zu und bewunderte sie insgeheim. Kein Rucksack, war die Devise, pas de rucksack! Am Rucksacktragen erkannte man die Deutschen. Kornitzer konnte es sich nicht vorstellen, daß diese junge Frau ohne augenzwinkerndes oder moralisches Einverständnis der Weinbauern, der Ortspolizisten und des Bürgermeisters ihre hochgefährliche Mission ausübte, während Hans noch im Lager Vernuche interniert war. Noch auf dem Schiff nach Kuba habe sich herumgesprochen, daß sie und Hans etwas von Papieren verstünden. Leute hätten sich schon angstvoll untereinander ihre Visa gezeigt. Und sie seien zufrieden gewesen, wenn einer (Hans oder Lisa natürlich) ihnen sagte: Es sind recht gute Fälschungen, wirklich geschickt gemacht, und mit etwas Glück wird es gutgehen. So waghalsig, so gleichmütig war Lisa.

Durch Hans Fittko und Lisa Ekstein lernte er auch den immer heiteren Fritz Lamm kennen. Er war ein geborener Volkspädagoge. Was in Deutschland geschehen war, was die Erfahrung des Krieges bedeutete, konnte niemand so gut erklären wie Fritz Lamm. Er war aus Stettin, hatte bei einer Zeitung volontiert, war SPD-Mitglied geworden, doch 1931 wieder ausgeschlossen worden, er wurde dann Gründungsmitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands und Mitglied des Sozialistischen Jugendverbandes Deutschlands. Nach dem Reichstagsbrand war er für fünf Tage in „Schutzhaft“ genommen worden, doch drei Monate später wurde er wieder verhaftet. Vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichtes in Leipzig wurde er wegen „Vorbereitung zum Hochverrat, Herstellung und Verbreitung illegaler Schriften“ zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Als er Ende 1935 entlassen wurde, stellte man ihn sofort wieder unter Polizeiaufsicht. Eine Arbeit zu bekommen, war aussichtslos, er ging stempeln und wohnte bei seiner Mutter. Als in Stettin Pralinéschachteln auftauchten, in deren Boden sozialistische Broschüren versteckt waren, fiel der Verdacht sofort auf ihn. Er entzog sich den neuen Gestapo-Verhören durch die Flucht. Er reiste nach Stuttgart und von dort in die Schweiz. Die Schweizer Behörden setzten ihn wieder fest. Er wurde nach Österreich abgeschoben, von Österreich gelang ihm die Flucht in die Tschechoslowakei. Die Geheime Staatspolizei Stettin korrespondiert über ihn mit der Geheimen Staatspolizei Berlin. Sein Name findet sich wieder auf der 14. Ausbürgerungsliste im Deutschen Reichsanzeiger vom 27. Oktober 1937. Jetzt ist er vogelfrei.

Mitte August 1938 war Lamm dann in Paris angekommen, arbeitete für die Sozialistische Arbeiterpartei als Sekretär, er wurde wieder verhaftet, saß im Pariser Zentralgefängnis und dann im Lager Le Vernet als „feindlicher Ausländer“. Mit gefälschten Papieren kam Lamm nach Havanna. Diese Papiere später wieder in reguläre umzuwandeln, kostete viel Mühe und auch Geld. Die ersten sechs Monate hatte er im Internierungslager Tiscornia verbracht, und all das war wie Wasser an ihm abgeperlt. (Weil er ein deutsches Zuchthaus kannte, weil er ein französisches Internierungslager kannte? Weil er seine Widerstandskraft kannte?)