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Seit der Krieg begonnen hatte, fürchteten sich die Kubaner vor Spionen und steckten zunächst einmal alle neu ankommenden Flüchtlinge in ein Lager, da saßen sie in der Hitze unter skandalösen Bedingungen. Soldaten waren auf das Schiff gekommen und hatten die Neuankömmlinge wenig rücksichtsvoll in Motorboote getrieben. Das wollten sie sich nicht gefallen lassen, sie verlangten nach ihrem Gepäck, das sie vorher völlig ahnungslos Trägern überlassen hatten, in der Annahme, es ginge zur Zollkontrolle. Die Soldaten waren handgreiflich geworden, drängten und schubsten die Männer, Frauen und Kinder in Boote, die auf die gegenüberliegende Seite des Hafens fuhren. Es gab ein Gezeter und Geschnatter, Rufe nach Verantwortlichen und gleichzeitig stumme Erbitterung. Dazu war man um die halbe Welt gereist, um in der Freiheit herumgeschubst zu werden. Dann ging es mit Lastautos einen Berg hinauf, und ehe sie sich versahen, standen sie innerhalb einer Stacheldrahtumzäunung, sie waren Gefangene, ohne zu wissen, warum und weshalb. Es folgte die Prozedur der Gefangenen-Aufnahme durch einen Schreiber, alles sehr gemächlich und gleichzeitig routiniert. Ein höherer Beamter, an den man sich hätte wenden können, war nicht zu sehen, auch nicht aufzutreiben. Das schien als Taktik schlau. Ein tropisches Schweigen, ein Sich-Verneigen vor dem Unabänderlichen. Man hätte sich vorbereiten können, aber auf was? Kornitzer hatte viel Spanisch gelernt, das war gut, die Neuankömmlinge hatten das Überleben gelernt unter den vielfältigsten Bedingungen, und das machte sie widerstandsfähig. Die Neuankömmlinge wurden in einen länglichen Speisesaal geführt, wo es ein kärgliches Mahl gab. Und dann ging es in Schlafsäle, Männer und Frauen getrennt. Im Männerschlafsaal waren etwa hundert Personen. Man lag in übereinandergebauten Stellagen. Die Frankreich-Flüchtlinge kannten das schon, es war ein Albtraum der Wiederholung. Wer dem Wärter einen halben Peso in die Hand drückte, bekam ein Oberbett. Im Lager waren alle möglichen Gefangenen, man wußte nicht, warum darunter auch so viele Schwarze waren. Kartenspiele, abfällige Bemerkungen, hitzige Wortgefechte in allen möglichen Sprachen, es war eine Ankunft in der Hölle. Der anbrechende Morgen schien eine Erlösung zu versprechen. Die Gefangenen stürzten in den Waschraum, da gab es ein halbes Dutzend Duschen, nur leider funktionierten sie nicht. Die Gefangenen rüttelten an den Gitterstäben der Fenster und schrien Agua, agua!, aber niemand nahm Notiz von ihnen. Für die hundert Gefangenen eines Blocks waren nur wenige Klosetts zur Verfügung, aber was am meisten fehlte in der Gluthitze, war Wasser. Durchgeweicht, triefend, matt wie Fliegen sahen die Gefangenen aus, und eine Wolke von Ausdünstungen entströmte den vielen Menschen, der jeder ausgesetzt war und die er zu seiner Pein mitproduzierte.

Endlich wurde das Barackentor geöffnet, man konnte hinaus ins Freie, aber die Luft war schwül, und das so begehrte Wasser mußte man halbliterweise kaufen oder, wenn man kein Geld hatte, erbetteln, und man mußte davon ausgehen, daß es verunreinigt war. Wie hätte es abgekocht werden können in der Hitze? Die Gefangenen schickten eine Abordnung in die Gefängniskanzlei mit der Frage, warum und wie lange sie festgehalten seien. Es war niemand für sie zu sprechen. Tage vergingen, ohne daß ein Beamter sich blicken ließ. Die Wärter vertrösteten: Mañana. Schließlich erfuhren die Inhaftierten von den schon länger Eingesperrten: Der Präsident der Republik hatte verfügt, daß alle Reisenden bis zur Überprüfung ihrer Papiere auf ihre Berechtigung angehalten werden müßten, weil kubanische Konsulate in Europa Visa für Geld verkauft hätten. Diese „Überprüfung“, ob ihnen nicht zu Unrecht Geld abgenommen worden wäre, gab erst recht einen Anlaß, den Flüchtlingen von neuem Geld abzuknöpfen, zugunsten der Beamten in Havanna. Dank der Anti-Korruptionsverfügung hatte man die Flüchtlinge nah genug beisammen und hielt sie im campo de concentración konzentriert (wie der Name schon sagte), bis sie aufs Neue zahlten. Mit der Zeit wurde jeder mürbe und gab sein letztes Hemd in der Hoffnung, das Lager verlassen zu dürfen. Für die Internierten mußte pro Tag ein Dollar für Verpflegung und Unterkunft bezahlt werden. Das tat der Joint; die Mitarbeiter knirschten mit den Zähnen. Es war eine besondere Gabe, aus den Gestrandeten Geld, Geld, Geld herauszupressen.

Als Kornitzer vom Lager Tiscornia hörte, dachte er an Claire: Wie es für sie gewesen wäre, wenn sie gereist wäre. Wenn sie nicht auf einem der Unglücksschiffe gewesen wäre, die zurückgeschickt worden waren nach Europa, wie er es sich vorher ausgemalt hatte, wenn sie später ein Schiff ergattert hätte, um bei ihm zu sein? (Wo, wo, in Casablanca? Das war gänzlich illusorisch, Deutschland war eine Falle. Indem es die Nachbarländer überfallen hatte, waren diejenigen seiner Bewohner, die mit keiner seiner organisatorischen und kriegerischen Maßnahmen einverstanden waren, Gefangene, Geiseln, zum Schweigen Verurteilte. Nein, Claire konnte das Land nicht mehr verlassen, das war klar, sie war eine Asketin, wie eine Säulenheilige auf einem Turm stehengeblieben, es gab nichts mehr, das ein Band zwischen ihnen spannen konnte.) Hätte sie es geschafft, kubanischen Boden zu betreten, wie, wie? man hätte sie ins Lager gesperrt wie alle Neuankömmlinge, keine Chance auf ein Zusammenleben mit ihm, und er, schuldbewußt in der Stadt, seiner minderen Arbeit nachgehend, sich von Kummer über ihre Internierung verzehrend, alles versuchend, damit sie freikäme. Nein, Claire in einem Lager wollte, durfte und konnte er sich nicht vorstellen.

Unter den Inhaftierten in Tiscornia war Julius Deutsch, ein führender Sozialdemokrat aus Österreich, der in Spanien gekämpft hatte. Die Deutsche Gesandtschaft in Prag hatte schon am 10. Dezember 1936 an das Auswärtige Amt in Berlin die Warnung ausgegeben, daß der berüchtigte jüdische Führer der österreichischen Sozialdemokratie, Julius Deutsch, die Tschechoslowakei verlassen und sich auf den spanischen Kriegsschauplatz begeben soll. Was ging das die Deutsche Gesandtschaft an? Und nun war der berüchtigte Jude und Sozialdemokrat mit den vielen geschlagenen Rotspaniern und mit Flüchtlingen aus Mitteleuropa in Kuba gelandet, auch das meldeten die diplomatischen Buschtrommeln, aber nicht so schnell, eher peinvoll. Mit welchen Papieren war er gelandet und in welcher möglicherweise hilfsbedürftigen, bedauernswerten Situation? (Und wer war in der Lage, ihn zu befreien, wer war ebenso gestrandet?) Kornitzer hörte davon, die Wände hatten Ohren, die Palmen fächelten es einem zu, ein Spaziergang auf dem Platz vor der Kathedrale, am Malecón, auf dem Paséo del Prado, in den Cafés, in denen die Emigranten verkehrten. Man mußte davon erfahren, wenn man nicht taub war. Also flehte er Rodolfo Santiesteban Cino an, etwas für Julius Deutsch zu tun, immerhin einen würdevollen älteren Politiker mit vielen Verdiensten, einen Endfünfziger, er wütete förmlich, verstieg sich zu der Behauptung, wenn Kuba ein Rechtsstaat sei, hier an diesem Fall müsse er sich beweisen. Der Rechtsanwalt, dem die Klage etwas ungelegen kam, denn er kam gerade erhitzt vom Tennisspiel, ging doch darauf ein, weil er inzwischen Kornitzer vertraute. Und wenn der bedachtsame Deutsche wütend wurde, mußte man ihn erst recht ernstnehmen. Der Rechtsanwalt ließ sich ein Dossier über den führenden österreichischen Sozialdemokraten, der General der republikanischen Truppen in Spanien gewesen war, schreiben, dabei half Lamm, dann rief er die bekannte kommunistische Anwältin Ofelia Dominguez y Navarro an, eine Kämpferin für die Menschenrechte, mit der er sonst offenkundig nicht verkehrte, und auch noch diesen und jenen, also: breites Bündnis, humanitärer Akt, internationale Zusammenarbeit, großes Tamtam, dann erreichte er etwas Entscheidendes: Der ehemalige spanische Gesandte in Brüssel, der in Havanna auch als ein Emigrant lebte, erinnerte sich an Julius Deutsch, wurde wach, tobte, daß ein so hochrangiger Politiker in einem Lager auf der anderen Seite des Golfs versauerte, schmorte, den Arsch hinhielt für vertrottelte Beamte, ja, die entsprechenden Vokabeln waren Kornitzer vollkommen unbekannt, doch er setzte Himmel und Hölle in Bewegung für ihn. Aber in der Folge besuchte der ehemalige Gesandte den Häftling Deutsch im schmalen Sprechzimmer des Lagers, eher in einem Sprechkorridor voller Lärm und Türenschlagen. Und rasch kam die Rede auf einen gemeinsamen Freund, den belgischen Außenminister, vorher Justizminister, Émile Vandervelde, und eine Vertrauenssituation war geschaffen. Der Spanier würde handeln, würde etwas für Deutsch organisieren, alle Hebel in Bewegung setzen, versprach er. Und Kornitzer, der mitorganisierte, war über die Maßen erleichtert. Und dann tauchte, aus welcher Ecke, aus welchem Café, welcher Unterkunft auch immer, noch ein Österreicher auf, Dr. Arnold Eisler, ein ehemaliger Unterstaatssekretär im Justizministerium, den eine Laune oder eher eine Verzweiflung des Schicksals nach Havanna getrieben hatte, und bestätigte alle Angaben. In der größten Zeitung Havannas stand ein Skandalartikel Europäischer General als Gefangener in Tiscornia (wer hatte den lanciert?), in ihm hieß es, unbegreiflicherweise werde Julius Deutsch festgehalten, doch immerhin mit dem seinem Rang gebührenden Respekt behandelt, er genieße außerdem eine Reihe von Erleichterungen. Worin die bestehen sollten, war den früheren Häftlingen in Tiscornia schleierhaft. Julius Deutsch wurde in einen kleineren Schlafsaal verlegt, doch nur, weil er einem Wärter ein paar Pesos in die Hand gedrückt hatte. Erst am sechsten Tag seiner Haft erlaubte man ihm — unter Wachbegleitung — aus seinem Gepäck beim Zoll einige Wäschestücke und Toilettenartikel zu holen. Als ein Mann mit Seife und Zahnpasta würde er glühend bewundert werden im Lager und könnte etwas abgeben. Als er noch einige Einkäufe machen wollte, schüttelte der Wachhabende streng den Kopf. Doch eine kleine Gabe machte ihn gefügig, sein Gewissen beruhigte sich zusehends. Allerdings mußte Deutsch danach ein Taxi zurück nach Tiscornia nehmen. Der Fahrer verlangte vier amerikanische Dollar, obwohl ihm für die Fahrt höchstens ein halber Dollar zugestanden hätte, wie Deutsch schätzte. Aber der Begleitsoldat zuckte resigniert die Achseln. Deutsch zahlte und wußte gleichzeitig instinktiv, der Fahrer und sein Begleitsoldat machten halbe-halbe. Im Lager hörte er von einem schon länger Inhaftierten, für die gleiche Fahrt zum Zollamt habe man ihm acht Dollar abgeknöpft.