Durch Fritz Lamm lernte Kornitzer auch Emma Kann aus Frankfurt am Main kennen. Sie war noch jünger als Lisa und Hans und auch Fritz Lamm. 1933 war sie als Au-pair-Mädchen in England von der Machtergreifung Hitlers überrascht worden, sie hatte dann als Sprachlehrerin in Internaten in Südengland arbeiten können und glücklicherweise 1936 ein Angebot einer Import-Export-Firma in Antwerpen bekommen und angenommen. (War es in Philipp Auerbachs Firma? Sie wußte es später selbst nicht mehr.) Das war eine glückliche Zeit, bis zum Überfall der deutschen Truppen auf Belgien im Mai 1940, bis zu ihrer Flucht nach Frankreich. Auch sie war im Lager Gurs gewesen, aber sie konnte sich nicht an Lisa erinnern und Lisa nicht an sie. Es waren so viele, so viele, sagten beide übereinstimmend, tausende von Frauen, zwölftausend. An ihre überaus energische Mitgefangene Hannah Arendt konnte sich Emma Kann erinnern. Weil Emma Kann einen belgischen Staatenlosenpaß hatte und aus Deutschland ausgebürgert worden war, wurde sie freigelassen. Eine Zeitlang lebte sie recht und schlecht im unbesetzten Teil Frankreichs, bis auch das unmöglich wurde. Über Casablanca war sie mit einem Seelenverkäufer nach Kuba gekommen. Hier kam sie als Englischlehrerin unter, privat, ohne Arbeitserlaubnis wie Kornitzer. Immer sah sie besorgt aus, obwohl sie es nicht mehr als andere war, aber in der gleißenden Helligkeit Havannas litten ihre Augen, und beim Lächeln entblößte sie viel Zahnfleisch. Vielleicht sah sie besorgt aus, weil sie Gedichte schrieb. Von den Gedichten sprach sie stolz, aber sie wollte sie nicht zeigen. Vielleicht hatten die anderen Emigranten auch allzu formell gefragt, man nahm Kornitzer und auch Fritz Lamm nicht ab, daß sie sich ernsthaft für Gedichte interessierten. Später vielleicht einmal, wenn alles vorbei war, antwortete sie ausweichend. (Aber wann war alles vorbei, und was war „alles“?) Sie zeigte ihre Neugier, ihre Freude an der Sprache, an der Sinnlichkeit jeder Erfahrung, an der Schönheit der Landschaft, aber damit war kein Staat zu machen. Kurz nach der Entlassung aus Gurs hatte sie ein Gedicht geschrieben, das die betörende Schönheit der kargen Pyrenäen-Landschaft feierte und die Freiheit darin. Es war ein nüchternes, strenges Gedicht, von dem sie kein Aufhebens machte, das sie aber glücklicherweise nie verlor und später veröffentlichte.
Und Kornitzer lernte auch Boris Goldenberg kennen. Er war mit Lisa Ekstein und Hans Fittko befreundet, und somit war auch Kornitzer mit ihm befreundet. Lisa kannte ihn noch von der Sozialistischen Arbeiterjugend in Wilmersdorf, sie hatten gemeinsam in Südfrankreich in einer „Villa“, die in Wirklichkeit eine halbfertige Bauruine mit schwindelerregenden Treppen ohne Geländer war, gehaust, die ein Sympathisant den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt hatte. Goldenberg war in Petersburg geboren und 1930 mit einer Arbeit „Beiträge zur Soziologie der deutschen Vorkriegssozialdemokratie“ in Heidelberg promoviert worden. (Kornitzer hatte über ein zivilrechtliches Problem promoviert, ja, das mußte er zugeben und gab es frank und frei zu: er hatte sich damals nicht für Politik interessiert.) Goldenberg dagegen war seit seinem 19. Lebensjahr Mitglied der SPD, zwei Jahre später war er wegen einer Kontaktaufnahme zur KPD aus der Partei ausgeschlossen worden. Folgerichtig wurde er Mitglied der KPD, aber als Anhänger des rechten Parteiflügels um August Thalheimer und Heinrich Brandler auch dort ausgeschlossen, wechselte er zur KPD-Opposition, die eine energische und freiheitliche eigene Politik gegen die Moskau hörige KPD betrieb, und schloß sich 1932 wie Fritz Lamm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands an und schrieb für das Parteiorgan. Im März 1933 wurde Goldenberg verhaftet, gefoltert, nach seiner Freilassung flüchtete er nach Paris, wo er auch der Exilleitung der SAPD angehörte. Ihm gelang es nach einer Ehrenrunde, die verzweifelt machte, die zur Untätigkeit auf Kosten der Hilfsorganisation Joint verdammte, als Lehrer in Kuba zu arbeiten, und er war damit zufrieden. Goldenberg war ein Stratege, er wußte, was die kubanischen Gewerkschaften tun und lassen sollten, stundenlang diskutierte er darüber mit Fritz Lamm, und Kornitzer hörte einfach zu. Goldenberg wußte, wie sich die anderen Länder Lateinamerikas im Krieg verhielten und warum und wie sie Deutschland niederwerfen könnten. Er hatte auch hervorragende Vorschläge zur Bekämpfung der Korruption in Kuba. Nur — leider — hörte niemand auf ihn, und das störte ihn nicht besonders. Oder er tat so, als sei er daran gewöhnt. Ja, er hatte sich daran auf kluge Weise gänzlich ohne Resignation gewöhnt. Und trotzdem hatte er recht, und sein Recht würde sich erweisen. Das war jedenfalls Goldenbergs Meinung. Kornitzer war eher an Details interessiert, an sinnvollen Lösungen innerhalb eines gegebenen Rahmens, an Rechtsstaatlichkeit, Individualrechten, Vertragsgestaltungen, nicht an Konstruktionen von Gesellschaft, deren Prämissen utopisch waren (oder abgelebt, tief in der Weimarer Republik wurzelten, so genau konnte man das nicht beurteilen, oder man hätte sich streiten müssen). Aber Kornitzer war nicht nach Streiten zumute, mit Goldenberg schon überhaupt nicht, er hätte den kürzeren gezogen. Sie waren von Vedado den Malecón entlangspaziert, bis zum Torreón de San Lázaro, einem wehrhaften Turm aus dem 16. Jahrhundert. Er war rund und glatt und alt, er erinnerte sie irgendwie an Europa. Am Meer wehte immer ein Wind, der hob einem die Schultern, als könne man doch eines Tages fliegen, über die glatte, blaue Fläche des Meeres, die kein Ende hatte.
Wenn Kornitzer alleine spazieren ging, grüßte er das Türmchen, hielt sich so nah wie möglich an der Kaimauer, sehnsüchtig, daß die aufspritzenden Tropfen ihn trafen und kühlten. Wenn er stramm ging, brauchte er genau 25 Minuten bis zum Castillo de San Salvador de la Punta, der alten Festung gegen die Pirateneinfälle. Betrat man den Malecón am Nachmittag und wandte sich nach Osten, hatte man die Sonne im Rücken, und wenn man Glück hatte, wehte einem die Brise ins Gesicht. Die Küste war geschwungen, so hatte die Brise die Chance, den Spaziergänger einmal an der Schulter, einmal im Haar zu streifen. Das war eine schöne Unterhaltung.
An anderen Tagen gingen Goldenberg und Kornitzer miteinander unter den Kolonnaden spazieren. Junge Frauen saßen im Schatten und drehten sich gegenseitig die Haare auf die Papprollen aus dem Inneren von Klopapierrollen. Damen lüfteten in aller Unschuld ihre milbenbehafteten Bettdecken, schüttelten den Staub, die Schuppen und die getrockneten Spermareste über ihren Köpfen aus. Aber Kornitzer und Goldenberg räsonierten, parlierten, es gab gute Tage, an denen es fast schön war, das blitzblaue Meer anbranden zu sehen und die Angler an der Hafenpromende Malecón zu beobachten, spindeldürre alte Männer mit einer Engelsgeduld und Jungen, halbwüchsige oder noch ziemlich kleine, die mit breit gespreizten Beinen das Gehabe der alten Männer imitierten, aber dabei einen solchen Liebreiz ausströmten, besonders zwischen den sehnigen Waden und den mageren braungebrannten Kniekehlen, daß man ihnen alles Anglerglück der Welt wünschen mußte.
Und es gab schreckliche Tage, an denen alles stürmte, davonfliegen wollte, zu stürzen drohte. Die Schaufenster wurden zugenagelt, die Türen verschlossen, der Wind peitschte tief, so daß er einem die Beine wegzog, am liebsten hätte man sich unter die Matratze verkrochen, wenn der Hurrikan kam und Dächer abdeckte und auch die eigene Schädeldecke unberechenbar in Mitleidenschaft zog. Es gab Häuser in der Stadt, die waren mit Ziegeln gedeckt, was ein schöner Wärmeausgleich im Sommer war — zwischen die Ziegel strömte ein wenig Luft, ein kleiner, beschaulicher Strom, der kühlte, erfreute. Doch ein wütender Hurrikan deckte die Ziegeldächer ab, die Straßen waren rote Scherbenhaufen, mühsam mußten danach die Dächer geflickt werden, mit alten, nicht so sehr beschädigten Ziegeln und vielen, allzu vielen teuren neuen. Die Dachdecker kamen nicht nach, und manche Hausbesitzer resignierten, deckten das Dach nicht neu, aus Geldmangel oder weil sie die Lust an dem alten Gebäude verloren hatten und ohnehin in ein modernes Viertel ziehen wollten. Die hohe Luftfeuchtigkeit war ein Feind der Architektur, sie ließ die Eisenträger korrodieren, sie griff das Holz an, auch Türschlösser rosteten im Nu. Irgendwo in Vedado war ein Säulenportikus stehengeblieben, und das Gebäude dahinter, das höchstens 40 Jahre alt gewesen sein konnte, war verschwunden, eingestürzt, es war wie ein Menetekel. Nach uns die Sintflut, nach uns ein weiterer Hurrikan, das war nicht freundlich den Mietern gegenüber. Und so war die Angst vor dem neuen Hurrikan eine existenzielle Angst, als könne man selbst mitfliegen und sich um eine Palme wickeln, nein besser: wie eine Schlingpflanze gewickelt werden. Die Luftwurzeln schaukelten. Und es gab andere Häuser, die mit einem Dach aus gewalzten, aneinandergestückelten Konservendosen belegt waren. Das war nicht schön, es war erbärmlich, der Regen knallte auf das Blech, und die Hitze knallte, aber im Notfall war es eine sichere Sache. Die Dächer wurden nicht abgedeckt, es tropfte, rann, rieselte nur durch die Ritzen zwischen den Blechen.