Plötzlich geschah etwas zwischen den Emigranten, ein Tuscheln, ein Kichern hinter der vorgehaltenen Hand, es hatte wohl mit den Emigranten aus Antwerpen begonnen, unter denen gelernte Diamantenschleifer waren. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, seit polnische und russische jüdische Juweliere sich in Antwerpen angesiedelt hatten, ist Antwerpen eine Diamantenstadt. Antwerpen, so munkelte man auch in Havanna, war der ideale Ort, um Juwelen und Schmuck gegen Schiffspassagen einzutauschen, immer noch, so schien es. Oder das Geschick des Handels hatte sich mit den Kriegsereignissen weiter nach Süden verschoben. Also staunte man die Antwerpener an, unter denen viele orthodoxe Juden waren, staunte sie an wegen ihrer vermeintlichen Gerissenheit, ihrer Tollkühnheit unter dem wärmenden (überhitzten?) Deckmantel ihrer Frömmigkeit. Sie hatten ihr Handwerkszeug mitgebracht und importierten Schneide- und Poliermaschinen aus Brasilien. Aber wo kamen die Diamanten her?
Selma berichtete später in Mainz ihrem Vater, ein älteres Kindertransport-Mädchen habe in seiner Kleidung eingenähte Steine aus dem Schmuck seiner Mutter mit nach England gebracht. Die Kinder seien bei der Zollabfertigung in England eindringlich befragt worden, ob sie Wertgegenstände mitbrächten. Und dieses Mädchen, in Konflikt mit den Wünschen der Mutter, habe seinen Saum aufgetrennt und die Schmuckstücke abgeliefert. Später sprach sie mit ihrer Pflegemutter über den Verlust, und die Pflegemutter erriet den Konflikt zwischen dem mütterlichen Auftrag und dem kindlichen Gehorsam und sagte ihr, sie habe ganz richtig gehandelt. Wie dieses Mädchen hatten vermutlich die Antwerpener Juden eingenähte Diamanten mitgebracht. Die Flüchtlinge schafften es, auch in Havanna eine Diamantenverarbeitung einzurichten. Arbeitsplätze waren da, eine staatliche Unterstützung, ja, plötzlich war das Arbeitsverbot für Emigranten aufgehoben, sang- und klanglos. Hatten die Emigranten der Jahre 1938 und 1939 zur bitteren Kenntnis nehmen müssen, daß ihnen die Arbeitsaufnahme verwehrt war, und hatten sie nur mit allerlei Tricks Arbeit bekommen und immer Angst gehabt, sie flögen auf, würden des Landes verwiesen oder bestraft, so gab es nun legale, peinlich saubere Arbeitsplätze im Stadtteil El Cerro, die keinem Kubaner etwas wegnahmen. Sie waren wirklich neu geschaffen worden, und die Antwerpener ließen durchblicken, Kubaner, leidenschaftlich, emotional, wild gestikulierend und aufs große Ganze, nicht auf ein Detail konzentriert, wären für die Arbeit an den Diamanten weniger geeignet als Europäer. Das klang ein bißchen rassistisch und war es wohl auch. Aber die Antwerpener hatten Energie oder Überzeugungskraft. Oder ein paar Steinchen vorab, die den Besitzer wechselten, machten die kubanischen Aufsichtsbehörden gefügig. Das wußte niemand so genau, und man wollte es auch nicht wissen. Aber darauf achteten die Antwerpener Fachleute: Schleifteller, Schleifsteine, surrende Maschinen, Werkzeuge zum Drehen und Fräsen, man mußte eine göttliche Geduld mitbringen, gute Augen und eine ruhige Hand. Die Saegers verdienten 4 °Cent pro Stein und bearbeiteten an die hundert Steine pro Tag. Das waren gute Löhne. Frauen arbeiten meistens als Schneiders, die nur 15 Cent pro Stein verdienten. Bei den Schleifers gab es verschiedene Kategorien von Arbeitern, je nach der Schwierigkeit des Schliffs. Eineinhalb bis zwei Tage arbeitete ein guter Schleifer an einem Stein, den er durch die Lupe in zehnfacher Vergrößerung sah, und wehe, er verkratzte ihn, dann wurden die frommen Antwerpener heftig und schrien die ganze Manufaktur zusammen. Für den Feinschliff, das predigten die Erfahrenen, sei der einzelne Mensch ganz und gar unverzichtbar. Das tat den Entrechteten, ihrer Würde Beraubten gut. Und so schnitten, sägten, schliffen und polierten sie die Steine, deren Herkunft und deren Zukunft ihnen vollkommen unbekannt waren.
Richard Kornitzer kam als Diamantenschleifer nicht in Frage, er war ein Brillenträger und schon zu alt. Hans Fittko wurde Diamantenschleifer und war nicht unzufrieden mit dem neuen Beruf. Das Schleifen, die Präzision des Vorgangs, half gegen das Grübeln, die Zukunftsangst, zügelte den Zorn. Auch Fritz Lamm lernte das Schleifen von Diamanten, stieg aber rasch zum Sekretär der Gewerkschaft der ausländischen Diamantenschleifer auf, die Aufgabe lag ihm. Lamm schrieb und sprach gut Spanisch, er arbeitete auch nebenbei für eine Zeitung und hatte die Vorstellung, man müsse beim Schreiben eine Person oder ein Objekt aus sich selbst heraus analysieren, sie oder es sägen, schneiden, schleifen, er mahnte an, mit dem eigenen Verstand den Diamanten der Person herauszuarbeiten. So sprach nur jemand, der vom Diamantenschleifen eine Ahnung hatte, eine winzige Anschauung jedenfalls, über die Schulter seines Freundes Hans hinweg. Gemeinsam gründeten sie eine Zeitschrift: Unterwegs. Zeitschrift der Jüdischen Emigration in Kuba, die es auf 49 Ausgaben brachte.
Erfahrene Schleifer lernten neue Schleifer an. Die Lingua franca der Diamantenschleiferei war das Jiddische. Jiddisch hieß in Kuba el idioma polaco, was die Sache nicht ganz traf, aber auch eine gewisse Abfälligkeit ausdrücken sollte. Wohin die Diamanten geliefert wurden, bekam Kornitzer nicht wirklich heraus. Hans Fittko sprach von Industriediamanten, die in Maschinen eingebaut werden, andere sprachen von Juwelieren, die die Diamanten abholen ließen durch unauffällige Kuriere und selbst in nebulöser Ferne blieben. Phantom-Juweliere, sie zahlten aber ordentliche Preise, und so war es nicht ratsam, allzu viel nachzuforschen.
Bei den Gewerkschaftsversammlungen der Diamantenarbeiter, die dem Gewerbe entsprechend mit einem gewissen Pomp und mit rhetorischem Brimborium zelebriert wurden, bestanden die ehemaligen Antwerpener darauf, Jiddisch zu sprechen, das war skurril, zeugte aber auch von ihrem enormen Selbstgefühl. Man mußte sie mühsam übersetzen. Die kubanischen Arbeiter fanden das blödsinnig, warum lernten sie nicht Spanisch? Und auch Hans, der das Jiddische einigermaßen verfolgen konnte (aber nicht übersetzen), wurde gefragt: Warum lehren sie uns das Diamantenschleifen, aber warum wollen sie keine Weltsprache lernen? Darauf wußte Hans Fittko auch nichts zu sagen, außer daß seine Emigration ihn Toleranz und eine gewisse Wurschtigkeit gelehrt hatte. Das mußte auch den kubanischen Arbeitern zu denken geben. Denn von ihnen wurde auch viel verlangt, aber sie hatten noch nie das Land, die Sprache gewechselt. Ihre Väter, ihre Mütter, ihre Vorväter und Vormütter vielleicht, von denen sie kein einziges Zeugnis besaßen, nur die Schattierung ihrer Haut und den Klang ihres Namens. Kornitzer mochte den engen, physischen Zusammenhang der Diamantenschleifer, ihr Arbeitsethos der Präzision, während im Juristischen vieles verschwamm, verborgen wurde hinter schönen Worten, Floskeln, die wie Eier in einen Korb gelegt wurden, doch alles kam darauf an, sie nicht zu zerbrechen, den Duktus des Rhetorischen nicht zu stören durch Ungeschick. Ein Manöver der Intelligenz und der Anpassungsbereitschaft, Kornitzer strengten solche Aktionen furchtbar an. Jede Höflichkeit, die man sich ausdachte, konnte als zu geringwertig empfunden werden, eine andere Höflichkeit, die auf dem Reißbrett entworfen worden war, konnte als ranschmeißerisch, zu idiomatisch aufgeklaubt empfunden werden, während der wirkliche Status des Sprechenden, Schreibenden noch der eines Ratsuchenden, eines Bittstellers hätte sein sollen. Alles war ein Tasten, ein Tappen im Dunklen, ein Blinzeln im doch wirklich gleißenden Licht, das der entworfene Text nicht spiegelte.