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Kornitzer wohnte jetzt wie eine ganze Reihe Emigranten in Máximos Hotel. Máximo, wie er seinen in Kuba unaussprechlichen polnischen Namen Moishe ins Spanische übertragen hatte, war ein kleinwüchsiger polnischer Jude mit einem grauen, zerzausten Bart. (Später ähnelte der Bart von Fidel Castro auf verblüffende Weise dem Bart des Hotelbesitzers, nur im Wesen war Castro ganz anders als der gutmütige Máximo.) Máximo war wie viele Juden in der Stadt den polnischen Pogromen entkommen, darüber zu sprechen, gab es in Havanna keinen Anlaß, aber die Deutschen, die später kamen, ahnten, warum Máximo so dünn und so energisch war, warum seine Stimme manchmal zitterte oder umkippte, sie rochen die Angst, die er als junger Mensch in Lublin (oder war es in Lemberg?) empfunden hatte. Sie rochen die Angst, aber für die Angst der Deutschen 1938 und für die so viel ältere Angst in Polen hatten sie keine gemeinsame Sprache, die Witterung reichte aus. Und das Schimpfwort polaco, auf das die neuen deutschen Emigranten am Anfang empört reagiert hatten, war in Wirklichkeit gar kein Schimpfwort, sondern eine Klassifizierung für die weißen Europäer, die ohne Geldmittel nach Kuba gekommen waren, Aschkenasim. Ob sie wirklich Polnisch sprachen, Jiddisch oder Deutsch, dafür drehten die Kubaner die Hand nicht um. Doch, es gab auch andere Juden, die sich ungleich leichter taten, es waren sephardische Juden, deren Sprache das Ladino war, das anderswo Spaniolisch genannt wurde, eine Mischung aus Renaissance-Spanisch, Arabisch und Türkisch, geschrieben in Rashi-Buchstaben, einer Variante der hebräischen Schrift. Und ihre Haut war weniger blaß, eine milde, glückliche Färbung, sie waren weniger arm, meist in Familienverbänden gekommen, hatten sich jeweils dort angesiedelt, wo schon Angehörige waren. Also hieß jemand sie willkommen, half in den praktischen Fragen, und sie hatten keine Ahnung, wer diese nervösen Leute waren, weit aus dem Norden, weit aus dem Osten, Sonnenbrand-Leute, die eine Vernünftigkeit, ein Recht, eine Existenzform einklagten, die die Sepharden schon längst hinter sich gelassen hatten auf ihrer langen Wanderschaft durch die Jahrhunderte und Kontinente. Die Aschkenasim, die vor der Welle der Hitler-Flüchtlinge kamen, waren meistens als alleinstehende junge Männer gekommen, viele waren Zionisten oder Sozialisten. Ihre Religion war in den Hintergrund getreten, ihr ethnischer Zusammenhang blieb.

Ob Máximo das Hotel wirklich gehörte oder ob er ein Strohmann für jemanden war, der sich als Hotelbesitzer nicht zeigen wollte, wußte niemand zu sagen, und Máximo selbst tat auch so, als wäre es gleichgültig. Das Hotel war ein großer grauer Kasten. Die Zimmereingänge des dreistöckigen Gebäudes lagen alle zum Hof an offenen Galerien, nachts brandete es im Hof von Gesprächen, Geschnatter, manche Gäste sangen auch, hörten Radio oder sangen die Schlager im Radio mit. Es hallte wie in einem Gefängnis, sagte jemand, der es wissen mußte. Aber es war lustiger bei Máximo als in einem Gefängnis — und sehr frei. Und in der Toilette hockte eine großäugige Kröte mit treuen Augen, und man wußte nicht genau, ob man die Wasserspülung heftig betätigen sollte, damit sie ertrank oder verschwand oder ob man sich notgedrungen mit ihr anfreunden sollte, einer gemütlichen, alten Hausgenossin. Denn sie war ja auch eine Wärterin über das eigene Leben. Über Politik konnte man täglich oder auch nächtlich auf den offenen Galerien mit den Mitbewohnern diskutieren, aber nicht über die fragilen Aussichten des eigenen Lebens und Hoffens. (Emma Kanns Mann war in Theresienstadt, und sie war in größter Sorge um ihn. Sie hörte einfach nichts mehr von ihm. Nein, das konnte man nicht täglich an die große Glocke hängen. Und auch nicht den Kummer über die abgerissene Verbindung zu Claire.) Was Claire von einer Kröte in einer Toilette hielte — Kornitzer war unfähig, sich das auszudenken. Und wenn er sich im lauten Hof von Máximos Hotel in einem der Schaukelstühle ein wenig entspannte, war er auch sicher, all das zählte nicht, nicht der Ekel, nicht die Entfernung, es zählte die gedachte, die empfundene Nähe, und über die war er sich sicher. Und er beschloß den Abend mit so etwas wie einem Nachtgebet.

Es ist Juni 1941, es ist sehr warm, windstill, nur läßt einen die feuchte Luft am Abend 25 Grad schon als kühl empfinden, man braucht einen Schal, eine Jacke. Lisa Ekstein hat eine Ausbildung als Bürokraft gemacht, sie sitzt tagsüber an einem Schreibtisch, und abends in Máximos Hof erzählt sie, wie sie angestaunt wird als eine beinahe perfekte Kraft, nur arbeite sie viel zu schnell, befinden ihre Kolleginnen. Auch Kornitzers fragile Tätigkeit als freischaffender Rechtskonsulent ist von Rodolfo Santiesteban Cino in eine Anstellung umgewandelt worden, was den Emigranten froh macht.

Der kommissarische deutsche Botschafter Gesandtschaftsrat 1. Kl. Stephan Tauchnitz, der die Botschaft seit dem 14. September 1939 leitet, hat citissime (in höchster Eile und unter äußerster Geheimhaltung) an das Auswärtige Amt gekabelt: Kanzler Rudnick wurde auf Heimweg von Dienstfahrt auf großer Landstraße zwanzig km vor Hauptstadt am Dorfeingang bei Autoreifenwechsel nachts überfallen und so Barschaft, Jacke, Ausweis, Privatschlüssel und Uhr beraubt, nichts dienstlich Wichtiges darunter. Polizei verhaftete Chauffeur des betreffenden Autos ohne dessen Insassen bisher zu fassen. Beabsichtige Ende dieser Woche im Falle Versagens der Polizei unter Hinweis auf kürzliches Attentat auf Konsulat Regierung mitzuteilen, dass ich angesichts erwiesenen mangelnden Schutzes seitens der Polizei Mitglieder der Behörde zu nunmehr nötigem Selbstschutz Gebäude und Personen bewaffnen werde.

Tauchnitz

Staatssekretär von Weizsäcker wiegelte im Antwort-Telegramm ab: Bitte vielmehr darauf zu bestehen, daß Regierung alle geeigneten Maßnahmen ergreift, um Überfall Rudnick zu sühnen und Wiederholung derartiger Vorkommnisse in Zukunft zu verhindern. In einer Nacht im April 1941 war vor dem deutschen Konsulat schon eine kleine Bombe explodiert. Die Täter pinselten GUERRA AL FASCISMO an die Wand (das hatte schon im spanischen Bürgerkrieg an vielen Mauern gestanden), hinterließen ein Plakat mit der Aufschrift Gegen den Faschismus gegen den Nazismus und Visitenkarten mit dem Aufdruck Acción revolucionaria. Es war nur ein geringer Sachschaden, aber die Nerven der Botschaftsangehörigen lagen blank. Es war eine kleine Botschaft, bestehend aus dem Gesandten, dem Kanzler, einem Konsulatssekretär und vier Sacharbeitern, „Hilfsarbeitern“ in der Diktion der Zeit, von denen niemand wußte, ob sie nicht auch Spione oder Agentenführer waren. Um so enger war man aufeinander angewiesen, um so dringlicher war die Fürsorgepflicht des Gesandten für die kleine, sich heroisch dünkende Mannschaft.

Am 22. Juni überfällt Deutschland die Sowjetunion und bricht den Hitler-Stalin-Pakt. Die Flüchtlinge in Havanna sind entsetzt, sie stecken die Köpfe zusammen, die kubanischen Gewerkschafter, mit denen sich Lamm und Goldenberg befreundet haben, empören sich, jetzt verstehen sie die deutschen Antifaschisten besser: Sie kommen aus einem gefährlichen Land, sie sind Verbrechern und Welteroberern entronnen. Im August 1941 findet in Havanna ein Gerichtsverfahren gegen sieben in Untersuchungshaft befindliche Reichsdeutsche statt. Sie werden der Mitgliedschaft in einer totalitär eingestellten antisemitischen Zweigorganisation des deutschamerikanischen Bundes, der in Kuba Propaganda für den Umsturz des Regierungssystems macht, angeklagt. Goldenberg geht zu dem Prozeß, hört sich die jämmerlichen Verteidigungsreden an, Kornitzer will nicht hingehen, er möchte solche Visagen, ja, so drückt er sich Goldenberg gegenüber aus, gar nicht sehen. Am 1. September kabelt der Botschafter Tauchnitz nach Berlin: Verurteilte mit Negern und sonstigen Verbrechern inhaftiert. Versuche, unter der Hand Erleichterung zu verschaffen. Nur Gnadenakt Staatspräsident kann ihnen helfen. Der Gnadenakt bleibt verständlicherweise aus. Und gleichzeitig meldet die Botschaft Überwachungsmaßnahmen nach Berlin, gewollte auffällige Einschaltung in Telefongespräche in Form absichtlicher Geräusche, zum Beispiel Husten. Im August 1941 werden alle deutschen Konsulate in Kuba geschlossen. Der Vorwurf lautet, sie betrieben Spionage. Konsularische Angelegenheiten sind nun ausschließlich in der Gesandtschaft Havanna zu regeln. Das ist etwas unbequem für die Plantagenbesitzer, ihre Verwalter, die Siedler und Firmenvertreter.