Выбрать главу

Die Flüchtlinge saßen in Máximos Hof, lasen Zeitungen, ein ambulanter Kaffeeverkäufer kam vorbei, er trug eine riesige Thermoskanne, mit zwei Fingern öffnete er seine Jackentasche einen Spalt breit, darin leuchteten die Zuckerwürfel. Aber jetzt wollte niemand Kaffee trinken, alle waren aufgeregt genug, diskutierten den Kriegsverlauf, das Vordringen der Deutschen in der Sowjetunion. Immer noch kamen neue Flüchtlinge aus Europa, brachten Schreckensnachrichten mit. Boris Goldenberg sagte: Die Amerikaner müssen in den Krieg eintreten. Ja, antwortete Kornitzer, aber wie? Gut an Máximos Hotel war, daß man zusammenblieb, daß man die Weltpolitik und die niederträchtigen Schikanen der kubanischen Behörden durchhecheln konnte. Gut war es, mit Boris Goldenberg, Emma Kann, Fritz Lamm und Lisa und Hans Fittko zusammenzusein. Es milderte den scharfen Schmerz der Einsamkeit.

Und dann zerstören die Japaner amerikanische Kriegsschiffe in Pearl Harbor, Amerika wird eine Kriegsmacht und Kuba schließt sich den Vereinigten Staaten an; es ist eine einstimmige Entscheidung für den Kriegseintritt am 14. 12. 1941 im Kongreß. Die Deutsche Botschaft wird geschlossen. Alle nichtjüdischen Deutschen werden zu feindlichen Ausländern erklärt, verhaftet und auf die Isla de Pinos, südlich von Kuba verfrachtet. Die Botschaftsangehörigen mit ihren Familien dagegen haben es besser, sie werden wie viele deutsche Diplomaten aus den USA, aus Mittel- und Südamerika bis zum 5. 6. 1942 in White Spring/West Virginia interniert und dann gegen amerikanische Diplomaten ausgetauscht.

Die Polizei kommt auch in Máximos Hotel und fragt nach dem Deutschen Hans Fittko. Máximo versteht sich gut mit den Polizisten, und niemand weiß, warum. Er schwört bei dem Leben seiner Mutter, daß Hans Fittko Jude sei, man sehe es doch, und was da in seinen Papieren stehe, sei eben ein Irrtum. Ich weiß, wer is a Jid. Sé quién es judío, sagt er in seinem Jiddisch-Kubanisch und steckt dem Polizisten etwas zu. Hans wird freigelassen. Die Verhafteten werden zusammen mit den in Kuba lebenden Nazis, Kaufleuten, Gutsbesitzern auf der Insel eingesperrt. Die Lagerverwaltung überlassen die kubanischen Behörden den Nazis, sie können das gut, das Verwalten, glauben auch die Kubaner. Alle konsularischen Belange der Deutschen übernimmt die spanische Botschaft, die aus altgedienten oder neu berufenen Falangisten besteht. Ihr Gebäude ist ein pockig aufgedunsener Stuckbau aus der Gründerzeit, eine einschüchternde Pracht, präpotent, Platz verschwendend. Kornitzer konnte nicht anders als sich auszumalen, Claire wäre bei ihm, lebte mit ihm im Hotel, und bei einer Razzia hätte man sie verhaftet und ins Lager gesperrt. Und Máximo hätte sie nicht retten können, und er auch nicht, sie sah nicht jüdisch aus. In einem solchen Augenblick dachte er, es ist immer noch besser, daß sie in Deutschland geblieben ist, dann wieder wollte er diesen Gedanken fortschicken, in die Wüste, aber er kam wieder wie eine fleischig wuchernde Urwaldpflanze.

Jeden Tag, wenn Kornitzer in die Rechtsanwaltskanzlei fuhr, sah er Männer, junge, alte, die, kaum daß sie in eine Straßenbahn eingestiegen waren, offenbar an nichts anderes mehr denken konnten, als eine Frau ausfindig zu machen, vorzugsweise eine hübsche, ersatzweise auch eine unscheinbare, um die drangvolle Enge zu nutzen und sich an ihr zu reiben. Kornitzer versuchte manchmal, den genervten oder angeekelten Blick der Frau aufzufangen, aber das gelang nicht. Das Objekt des Übergriffes wollte nicht Subjekt des einverständigen Schauens, des gegenseitigen Sich-Anschauens werden. Der Blick ging ins Leere, Vage. Und es wäre ebenfalls ein Übergriff gewesen, an der Haltestelle, an der die Frau ausstieg, ihr zu folgen und sie anzusprechen: Man habe gesehen, gespürt, was ihr in der Straßenbahn widerfahren sei, ob man sie auf eine Limonade oder einen Kaffee einladen dürfe. Dieser Impuls mußte streng zurückgedrängt werden. Die Kränkung der Frau war nicht zu reparieren. Im Gegenteiclass="underline" Die nachgetragene Freundlichkeit erregte Argwohn. Die Kränkung war für die betroffene Frau, ja, fast jede war einmal betroffen, nur durch das Wiedereintauchen in die Menge abzuwaschen. Durch die vermeintliche Linderung brannte sie sich in das Gedächtnis, das der Frau und gleichzeitig in das des zufälligen, mitleidigen Zeugen.

Und es gab andere Männer, die es schafften, wenn die Straßenbahn leerer war, sich vor einer Frau aufzumandeln und ihr zehn, fünfzehn Stationen lang auf die Beine oder — wenn sie es romantischer haben wollten — in die Augen zu sehen, sich wer weiß was erhoffend, emotionale Hungerleider. Aber der Gipfel waren die visuellen Aggressionen, denen Frauen ausgesetzt waren, die in der Straßenbahn saßen, die in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Die Wagen kreuzen sich für Sekunden, die Scheibe, durch die die Frau sichtbar wird, ist schmutzig, aber es fehlt nie ein schmuddeliger, fettiger oder krankhaft glatzköpfiger Kerl, der die Frau frech oder geil oder herausfordernd (oder alles zugleich) anglotzt. Welche Funktion hat dieser bannende Blick? Das innere Sammelalbum mit Frauenbildern (posiciones) zu vergrößern? Die Hoffnung, die beobachtete Frau bei einer Reaktion auf dieses blitzartige sexuelle Ansinnen zu überraschen? Und selbst wenn er einen Blick des Einverständnisses erhaschen könnte, wie sollte er so schnell von der einen Straßenbahn in die Straßenbahn der entgegengesetzten Richtung wechseln können? All das war hirnverbrannt und illusorisch, möglicherweise der Reflex eines leerlaufenden Jagdinstinkts, der dann in der Häuslichkeit mit der häßlichen, blauädrigen und schon verschlissenen eigenen Frau zu einem erhitzten und gleichzeitig gelangweilten Verkehr führte. Der Unterrock blieb im Gedächtnis. Nur das Bilderkino im Kopf flimmerte: Die Frau aus der Straßenbahn blickte stumm und verachtend auf das fremde Bett, in der eine Ehefrau verraten worden war. Kornitzer sah das alles und dachte darüber nach. Ein Ergebnis konnte sein Nachdenken nicht haben, es war eher ein Schauen, an das sich Gedanken hefteten, von denen er sich wünschte, daß sie in der Hitze nicht klebrig wurden.

Er hätte gerne mit Señora Martínez besprochen, wie sie solche Übergriffe einschätzte, moralisch und ästhetisch, und wie sie sie erlebt hatte, aber dann scheute er sich doch, denn er schätzte, daß Señora Martínez höchstens vier, fünf Jahre älter als er war und daß es vermutlich auch beleidigend war, sie nach vielleicht historischen Erfahrungen zu befragen, die zweifellos mit einem männlichen Begehren zu tun hatten, aber in die Vergangenheit gerichtet und irgendwann versickert waren. Hatte dieses Ende Señora Martínez erleichtert oder beschämt, weil sie an ein Alter, eine Begrenzung des Begehrtwerdens erinnert wurde? Und er überlegte, warum Señora Martínez, die sich nicht nur die Fingernägel polierte, sondern auch sonst eine Menge von Tricks ausgedacht hatte, um sich und vor allem ihre kostbare Arbeitskraft zu schonen, überhaupt Angestellte in einer Rechtsanwaltskanzlei war und warum sie vor seinem Eintreffen die einzige Angestellte gewesen war. Eine ehemalige Geliebte, die abgefunden werden mußte? Oder eine, die sich bewährt hatte durch Anhänglichkeit? Oder eine abgewiesene, die sich nicht beirren ließ und auf eine weitere Chance wartete? Und dann schoß ihm siedendheiß ein Gedanke an Claire in den Kopf, an Frau Claire Kornitzer, und daß man auch fragen mußte, warum und wie sie jetzt arbeitete und unter welchen Umständen. Gab es keinen Herrn Martínez, wie es keinen Herrn Kornitzer mehr gab, der einen der Dame angemessenen Status garantierte? Und so hörte er sofort auf, in Gedanken Fragen an Señora Martínez zu stellen, weil er nicht wollte, daß ähnliche Fragen an Claire gestellt würden. Fragen, die auch ihn betrafen, den nicht mehr anwesenden Ehemann, den Ehemann, der die Frau aus Gründen, die nicht jeder auf Anhieb im Gesicht der Ehefrau lesen konnte, verlassen hatte, verlassen mußte. Und so blieben seine Fragen unbeantwortet.