Charidad Pimienta, so heißt sie, die, mit der er jetzt schon zwei Stunden über einem kalten Kaffeetäßchen turtelt, Charidad Pimienta weiß, wo Deutschland liegt (Enzyklopädie des geographischen Weltwissens, 3. erw. Auflage), und ahnt, wo die Probleme eines deutschen Emigranten liegen könnten, und sie hat sehr viel Empathie mit ihm, wenn er nicht nur sein Taschentuch hergibt, sondern auch sein Herz. (Das fordert sie nicht, erwartet sie auch nicht, aber es gibt ein Zögern, eine offene Situation, die sich nach allen möglichen Richtungen entwickeln könnte.) Und er, der sich ein bißchen schämte, die Frau von hinten — wie der Fiesling, der sich an ihr gerieben hatte —, vom Nacken, vom obersten knochigen Wirbel her betrachtet zu haben, ist jetzt beglückt, daß ihr empörter Schrei von ihm (ja, genau, von diesem bleichen, rosafarbenen, zu großen, etwas zu steifen, ordentlichen Mann) gehört, erhört wurde. Das ist etwas Unerhörtes, und Charidad Pimienta lächelt ihn an, und er lächelt zurück, das feuchte Taschentuch in seiner Hose vergißt er, sie sitzen fest an einer blödsinnigen, banalen Stelle in der doch schönen Stadt, in einem Wurmfortsatz der Stadt. Soll man zurückfahren ins Centro oder bleiben, wo Charidad vielleicht zuhause ist (oder nur ein Zimmer hat als eine junge Lehrerin?), man weiß es nicht, man tastet, findet wieder das ziegenhafte dünne Knöchelchen mit der weichen, bleichen, rosafarbenen Hand, und die Hand möchte dort bleiben, nicht ausruhen, aber doch eine Hütte bauen, die dieses Knöchelchen zart ummantelt und schützt. Charidad seufzt. Eine schöne Sprachlosigkeit ist dieses Seufzen.
Und dann ist alles gleichgültig; Kornitzer hat schon im Hotel von anderen Emigranten gehört, die „Erfahrungen“ mit Kubanerinnen gemacht hatten. Anspruchsvoll schienen sie den Europäern immer, die einen wollten gleich Schuhe gekauft haben, ja, so ähnliche und so teure, wie die Chefin der Immigrationsbehörde sie trug (Wildleder, sandfarben und mit Spangen über dem Spann). Oder sie wollten parlieren, über Europa, über ein Hin und Her, in dem alle Brücken abgebrochen waren. (Hatten sie denn nicht Las Casas gelesen über das furchtbare Abschlachten der kubanischen Urbevölkerung durch Europäer im Namen des spanischen Königs, oder waren sie Nachkommen der ins Land Gedrungenen im Namen des Königs und des umfassend katholischen Glaubens auf der Suche nach Gold, das sie nicht fanden, und war das alles gründlich vergessen oder verdrängt?) Die jungen Damen demgegenüber wollten Eindrücke und Empfindungen der Prado-Gänger, der Louvre-Besucher aus erster Hand, als hätten Europäer in den letzten Jahren nichts anderes zu tun gehabt als ihre Museen zu besuchen. Daß die Europäer, die nach Kuba kamen, reihenweise in Lagern gesessen, Folter überstanden hatten, sich um ihre Angehörigen sorgten, wollten die wohlriechenden, gebildeten Damen nicht so richtig wissen. Das war ein heftiger Dissens, der jede Liebesbeziehung, ja schon das erste Techtelmechtel mächtig störte. Da hatten die Emigranten wirklich andere Sorgen, und die gebildeten, weltläufigen Kubanerinnen, die gut gebügelte Kleider mit Tupfen und großen Blumen trugen und eine überaus schöne, besonnte Haut darunter, wenn sie sie der Temperatur entsprechend zeigten, also fast immer, ja, häufig eine atemberaubend schöne Haut, waren sehr enttäuscht, daß die Europäer nicht mit Kultur gesättigt waren, wie sie es sich vorstellten. Also müßten sie selbst vielleicht den Prado, den Louvre sehen (auch das Berliner Museum, dessen Namen sie nicht recht verstanden hatten, nahmen sie billigend in Kauf), aber der Europäer, der Emigrant, zu dem sie sehr freundlich waren, mußte es richten. Und irgendwann mußte doch in Europa wieder Ruhe herrschen, mit anderen Worten: Die Deutschen, also Hitler und seine Leute, so vage mußte es gesagt werden, sollten Ruhe geben. Das klang sehr sympathisch, aber der in ihre Fänge geratene Emigrant aus Deutschland konnte der schönen und gebildeten Frau nicht garantieren, daß Hitler endlich aufhörte, Krieg zu führen, damit elegante junge Damen aus einem fernen Land endlich einmal auf Kosten eines Europäers (ist Odysseus nicht auch heimgekehrt?) europäische Kultur genießen konnten.
So hatten andere Emigranten es seufzend erzählt, spätabends in Máximos Hotel, und deshalb war Kornitzer gewarnt. Die Politik war ein einziges Handaufhalten, und die Damen, die Lust hatten auf einen europäischen Freund, waren nicht anders. Bezahlt zu werden, über den Preis der Verfügbarkeit nachzudenken und ihn einzuklagen, war freilich die Option einer ganz anderen Kategorie von Mensch, von denen die jungen, gebildeten Damen, die auch ihr Sprachempfinden, schwungvoll, tirilierend, mit grammatischem Verständnis, testen wollten, meilenweit entfernt waren. Nein, alles, was er über Frauen in Máximos Hof aufgeschnappt hatte, mußte er bei Charidad restlos vergessen, als hätte er es nie gehört.
Den Körper einer Frau kennenzulernen, ist eine rühmenswerte Aufgabe. Jede Nacht erweitert sich die Lust um einen neuen Landstrich und der schon umfangreiche Wortschatz um neue Begriffe und Regeln. Unregelmäßige Verben des Körpers, Doppelungen, Symmetrien. Als erstes erlangt man Zugang zur Hand (zu einer Hand!), einem Körperteil, der immer bereit ist, sich hinzugeben, der mit allen möglichen Gegenständen vertraut verkehrt. Jeder Finger bekommt einen Namen, jeder Fingernagel ist einzigartig, jede Falte, jede Ader auf dem Handrücken. Und es ist nicht nur die Hand, die eine andere Hand kennenlernt. Und was erst vom Arm sagen, dem Ohr, der Schulter, den Kniekehlen, alles ist anders, neu, eine Grammatik der Sinne bis in den Schoß hinein. Der Nacken, glücklicherweise, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Alles muß staunend und willig zur Kenntnis genommen werden, keine Form kann mutwillig ersetzt werden. Es ist der Körper dieser Frau.
Richard Kornitzer staunte, wie schnell er lernte, wie schnell er sich in der fremden Körpersprache ausdrücken konnte und daß er auch die schnell hingeworfenen Sätze verstand, auch Seufzer, eine beruhigende Hand auf seiner Hüfte oder das Knirschen von Fingernägeln auf seinem Rücken verstand er schnell und konnte alle Signale seufzend beantworten. (Man verlernt ja die frühere Sprache nicht, während man eine neue hinzulernt, sagte er sich.) Charidad mußte immer früh aufstehen, die Kinder in der Schule, die Kollegen, der Herr Direktor, die befürchtete Schwatzhaftigkeit, ihre Geheimnisse mit Richard — sie bemühte sich, den Rachenlaut ordentlich zu sprechen und den Geliebten nicht einzugemeinden als einen Ricardo, von denen es viele in Havanna gab. Und als eine Geographie-Lehrerin war sie an Fremdem interessiert, den Flüssen der Adern, dem Schulterngebirge, der Hochebene des Rückens, wenn ihr Geliebter sich vor ihr ausstreckte, Höhenzüge, Driften und Mulden, das Gestein, auch die Bodenschätze einer einzelnen Person waren zu erforschen, nichts war ja bekannt, und da war er, Dr. Richard Kornitzer, eine Art von Kontinent, fremd und weiß, den eine Christoph-Kolumbus-Nacheifererin sorgsam erforschte, Zentimeter um Zentimeter, Felsvorsprung für Felsvorsprung, Haar um Haar in einer Art von Guerillataktik, und er genoß es, wie ihre spinnendünnen Finger, ihre Lippen, ihre Zehen und ihre mageren, aber doch energischen Arme den bleichen, vom Sonnenstich gefährdeten Kontinent in Besitz nahmen. Arme, in denen sie häufig, wenn sie ihn traf, einen Stapel Hefte trug. (Aus denen die frische Tinte tropfte, so kam es ihm vor, frische Tinte, wie anderswo Blut aus einer frischen Schlachtung tropfte.) Prado, Louvre, das hatte sie auch irgendwie gehört, aber die dünnen Finger erkundeten einen Kontinent, der rosafarben war und aufregender als alle, mit denen sie ihre Schüler bekannt machte: den Kontinent ihres deutschen, fremden Geliebten. Charidad war als Lehrerin eine unermüdliche Forscherin, und es war schön, ihr ein Aufbaustudium im eigenen Interesse zu ermöglichen. Sie war eifrig, fand alles Mögliche über den fremden Kontinent heraus, kein Lernen blieb ohne Rückhalt in der lernenden Person, und sie strahlte, protzte schier vor Wissen und Erfahrungsgewinn. Auch Richard lernte ja, er lernte, daß er nicht nur Subjekt war, sondern ein exotisches Menschentier, scheu und seltsam und wunderlich. Paßte er sich an