Nach fünf Jahren im Land bekamen die Flüchtlinge das Angebot, die kubanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Das mußte sorgsam überlegt werden. Einen Paß zu haben, war eine gute Sache. Er gab Sicherheit. Aber käme man mit einem kubanischen Paß zurück nach Deutschland? Wie würde man angesehen? Oder könnte Claire, wenn er sie wiederfände, als deutsche Staatsbürgerin, als eine Angehörige der Feindesmacht nach dem Krieg nach Kuba kommen? Unter welchen Entbehrungen für sie, für ihn, einen kubanischen Staatsbürger mit Verpflichtungen? Auch Lisa und Hans Fittko diskutieren, und schließlich schwingt sich Hans zu einer wohlgesetzten Rede auf: Ein Paß ist ein Stück, das mir Protektion gibt, die das deutsche Volk nicht hat. Wir Antifaschisten können in der zukünftigen Entwicklung Deutschlands nur eine Rolle spielen als Deutsche unter Deutschen. Nicht mit dem Paß der Siegermächte. (Daß später Emigranten nicht nur mit einem Paß der Siegermächte, sondern auch in einer Uniform der Siegermächte nach Deutschland zurückkehrten und Einfluß nahmen, hätte ihm nicht gefallen. Da berührte sich seine Ehrpusseligkeit auf merkwürdige Weise mit den Ängsten und Hysterien im darniederliegenden Deutschland.)
Hans Fittkos Rede saß, sie überzeugte, keiner der Freunde im Máximos Hotel nahm die kubanische Staatsbürgerschaft an, das Offene, die Unsicherheit war ihnen zur zweiten Haut geworden. Am 30. Juni 1944 berichtete der „Aufbau“ grundseriös über Kuba — nach der Wahl. Hatte Lamm oder Goldenberg den Artikel geschrieben oder in New York lanciert? So sah es aus. Reaktionäre Bestrebungen und fremdenfeindliche Propaganda seien im Wahlkampf bemerkt worden. Um so erfreulicher ist das Bekenntnis der neuen Regierung zur Demokratie auf allen Gebieten, einschl. dem der Einwanderung. Der Führer der Cubanischen Revolutionären Partei (Auténticos), Senator Dr. Eduardo R. Chibás, habe nach der Wahl der Presse eine öffentliche Erklärung abgegeben unter dem Stichwort Kein Hass, keine Animosität gegen irgendjemand. Das habe sich wohl zu liberal, zu leise angehört, man mußte wachsam sein, das las man zwischen den Zeilen. Aber dann hieß es weiter: Einleitend wird die Gleichberechtigung der cubanischen Frauen, die sich im Wahlergebnis in der Richtung einer demokratischen Entwicklung ausgezeichnet bewährt hat, als Prinzip der führenden Partei noch einmal bestätigt. Dann betont Chibás den Willen der Regierung, das freie Koalitionsrecht der Arbeiter zu schützen. Zur Ausländerfrage erklärte er wörtlich: Ausländer, die sich unseren Gesetzen unterwerfen, haben von der Auténtico-Partei nichts zu fürchten. Weit davon entfernt, sie in der kommenden Konjunkturperiode von ihren gegenwärtigen Arbeitsplätzen zu entfernen, werden wir gezwungen sein, Arbeiter aus allen Teilen der Welt in unser Land kommen zu lassen. Das klang großsprecherisch, einer ungewissen Konjunktur entgegenträumend. Aber der nachfolgende Satz war Musik in den Ohren der europäischen Emigranten, und sie wiegten sich in diesem ungewohnten Takt: Die ungerechte Ausbeutung, deren Opfer europäische politische Flüchtlinge geworden sind, wird mit der Wurzel ausgerottet werden. Das klang so gut, daß man es nicht wirklich für wahr halten konnte. Ja, Chibás war ein begnadeter Redner, und er hatte im Wahlkampf in einer wöchentlichen Radiosendung die Korruption des Landes angegriffen. Ja, Kuba war groß darin, allen alles zu versprechen. Man mußte abwarten. Aber die schönen Worte waren nun einmal in der Welt, und da schwirrten sie herum.
Als dann der Krieg zu Ende war, als die Emigranten Bilder aus Deutschland in den Wochenschauen sahen, gab es einen Zweifel, ob die Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, richtig sei. Bilder zu betrachten hieß schaudern und verzweifeln. Nach den Zurückgebliebenen fragen. Doch, Hans, der die Initiative ergriffen hatte, wollte unbedingt nach Deutschland zurück, auch Richard Kornitzer, auch Fritz Lamm (zögernd, sich Argumenten nicht verschließend), nur Boris Goldenberg hatte sich anders entschieden: Eine demokratische Gesellschaft wieder aufzubauen in Deutschland war das eine, eine schmierige, schwierige, verwirrte semi-demokratische Gesellschaft wie die kubanische zu einer sozialistischen zu transformieren, war das andere, das vielleicht Lohnendere, Zukunftsweisende, meinte er. Wo waren die deutschen Sozialisten? fragte er rhetorisch. Geschlagen, gedemütigt, als Jammergestalten aus den Lagern gekommen, unter Halbtoten hervorgekrochen, das wollte Goldenberg nicht sehen, sein Mitleid war aufgebraucht, er wollte vorwärts blicken. Fritz Lamm hatte es inzwischen geschafft, mit den Stockholmer Mitgliedern der Sozialistischen Arbeiterpartei, darunter Willy Brandt und August Enderle, Kontakt aufzunehmen, und nahm Anteil an ihrer Diskussion über das künftige Verhältnis zur Sozialdemokratie. Kornitzer, der sich eine parteiliche Bindung für seine Person nicht vorstellen konnte — war ein Richter nicht per se oder im Idealfall unparteiisch? — , hatte wenig Verständnis für diese heftigen Auseinandersetzungen, diese Stürme im Wasserglas. Wie einen Schlag vor den geistigen Kopf empfand Fritz Lamm, daß dem vormaligen KP-Opportunismus nun ein SPD-Opportunismus entgegenstand. Ein Ort dazwischen war in der Nachkriegsgesellschaft nicht vorgesehen. Auch die Dokumente, die er studierte, zeigten ihm, daß die Genossen aufgehört hatten, überhaupt sozialistische Revolutionäre zu sein. Darüber war er enttäuscht, aber es gab keinen Ort, diese Enttäuschung abzuladen. Er hätte dies gerne mit Hans Fittko diskutiert.
Aber Hans Fittko wurde sehr krank, besorgniserregend krank, er hatte das Bewußtsein verloren, Lähmungen traten auf, er hatte ein Aneurysma im Hirn und mußte vieles neu lernen, Bewegungen, Wörter, nicht einmal das Wort „Deutschland“ sagte ihm etwas. Selbst Erinnerungen fehlten ihm und kamen nur langsam wieder. Es war unverantwortlich, das sagte seine Frau Lisa, mit dem kranken Mann in ein Trümmerland zu reisen, in dem es an allem mangelte. Also reisten sie ganz gegen ihre Überzeugung in die USA, nach Chicago, wo sich Freunde und Verwandte gefunden hatten, glücklicherweise. Inzwischen hatten sie geheiratet, und Richard freute sich an ihrem vernünftig installierten Glück. Eigentlich heirateten sie zum zweiten Mal, sie hatten sich schon einmal in Prag das Jawort gegeben, aber es fehlten Papiere, die sie hätten nachreichen müssen, das gelang nicht. Und dann mußten sie die Tschechoslowakei verlassen, und in Frankreich war es vollkommen gleichgültig, ob sie legal verbunden waren; sie waren ein Paar. Auch Emma Kann — die Spur ihres Mannes hatte sich in einem Lager, weit weg von Theresienstadt, verloren — entschied sich für die USA. Ihr ausgezeichnetes Englisch gab den Ausschlag, und sie probierte sich schon in englischsprachigen Gedichten.
Und so stob die kleine Gemeinschaft auseinander, der Joint verschickte Listen, man trug sich ein, fieberhaft wurden Angehörige gesucht. Das Hotel leerte sich Monat für Monat mehr, Máximo schwankte zwischen Glückwünschen, Verabschiedungsreden und Händeringen, neue Gäste zogen ein, die alten wurden einsamer, einsilbiger, oder sie sprachen schon von früher, und dann verabschiedete sich Richard auch von den letzten Freunden und suchte noch einmal Charidad auf, um danke zu sagen, danke für alles, das war etwas weitläufig und sehr ungenau, aber mehr war auch nicht zu sagen, und ein konventionelles „Auf Wiedersehen“ war nicht zu erwarten. Sie gab ihm eine Photographie von Amanda, die keck in die Kamera lächelte, auf strammen Beinchen, an der Hand einer erwachsenen Person, die abgeschnitten war auf der Photographie. Kornitzer hoffte, wann immer er das Bild ansah, es sei Charidads Hand. Und er wollte instinktiv die andere Hand des kleinen Mädchens in seine nehmen, in das Bild handelnd eingreifen, so daß in seiner Phantasie doch noch eine Art von Familienphoto entstand.