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Chibás, auf den sich viele Hoffnungen gerichtete hatten, führte 1947 den Bruch mit seiner Partei herbei und gründete die Orthodoxe Partei (Ortodoxos). 1951, kurz vor Beginn des neuen Wahlkampfes, unternahm er am Ende einer Rundfunk-Sendung einen öffentlichen Selbstmordversuch, an dessen Folgen er starb. Das registrierte niemand mehr von den deutschen Emigranten. Und Goldenberg, der geblieben war voller Hoffnungen, mußte es mitteilen in die USA und nach Europa, eine unangenehme, eine traurige Pflicht. Batista sprang wieder in die Bresche, um das System der Korruption, des Schlendrians zu erneuern.

So war Kuba in Wirklichkeit eine Inkubationszeit gewesen, aber für was? Für den Zweifel, für die Sehnsucht, für das Überbordende, das später eingefangen werden mußte wie ein wildes Pferd. Nein, es war sehr, sehr schwer, über Kuba zu sprechen und weder zu weinen oder ins Schwärmen zu geraten, aber auch nicht in ein maßloses Geschimpfe. Und so versank Kuba, diese lebhafte, laute, von Musik getränkte Insel, vollkommen im Schweigen, das war sehr ungerecht, aber auch gerechtfertigt. Und wie sollte man sich selbst, infiziert, karamellisiert von der Süße der Erfahrung, rechtfertigen? Es gab keine Gewißheit, nur ein Tasten, ein Gehen und Gegängeltwerden von Tag zu Tag, und die Tage längten sich und versengten in der Hitze, und der Körper, durch den die Tage gingen und wiederkamen, versank in einer Passivität, die wohltuend und gleichzeitig ernüchternd war. Mehr war dazu nicht zu sagen, es sei denn, man wäre päpstlicher als der Papst.

Charidad war das nicht, und die Mitbewohner in Máximos Hotel, die manches sahen und übersahen und selbst nicht immer gesehen werden wollten, oder man sah ihr Häufchen Unglück wie unter einer Lupe, waren das auch nicht gewesen. Und Charidads Kusine (oder die ganze Familie, das wußte Kornitzer nicht) deckte einen Mantel des Schweigens über manches, was nicht im Hellen aufkeimen sollte, schloß sich wie eine Membran über der Wunde, dafür mußte er dankbar sein, obwohl er eigentlich revoltierte, aber die Frau, ja, sie war eine Frau geworden durch die leidvolle Erfahrung, legte ihm eine Hand auf den Arm, die Härchen richteten sich auf wie beim ersten Mal, als sie ihn berührt hatte. Bei diesem letzten Besuch beruhigte sie ihn, ja, das hatte Claire auch häufig getan, und so verschieden die protestantische Preußin von der Kubanerin war, deren Leben er so grundsätzlich durcheinandergewirbelt hatte, darin waren sie sich auf seltsame Weise ähnlich: sie zähmten ihn, sie wiesen ihn in eine Ordnung, der der Jurist (auch der Mann) schwer widersprechen konnte. Nein, Claire hätte keine Revision geduldet, und Charidad wußte nicht einmal genau, was das war. Gegen die Liebe gab es keine Rechtsmittel einzulegen, zumal wenn die Liebe vielleicht ohnehin ein Unrechtsmittel war, ein Mittel, Nähe herzustellen, Vertrauen, aber keinen Rechtszustand. Das hatten die Beteiligten gewußt und akzeptiert. Sie gezwungenermaßen und er sorgenvoll, schuldbewußt, glücklich zuerst und sehr unglücklich danach.

Krater und Schneisen

Kornitzer dachte häufig noch an Kuba, besonders wenn es laut war im Landgericht. Plötzlich war dann die Erinnerung an eine Mulattin im Haus gegenüber in Havanna ganz nah. Mit einer majestätischen Ruhe thronte sie am offenen Bogenfenster des Mezzaningeschosses, über ihrem Kopf, genau in der Mitte, ragte eine senkrecht angebrachte Neonröhre auf. Und es kam Kornitzer manchmal so vor, als rühre sie sich nicht, um diese schöne Symmetrie nicht zu stören. Unter ihr in der Gasse tobten Kinder. Er dachte auch an eine Alte, die im Schutze der Dunkelheit auf der Schwelle des Hauses saß, es sich bequem machte und ungeniert ihr Holzbein abschraubte. Sie legte es neben sich. Überhaupt gab es viele Beinamputierte in Havanna, das fette und zu süße Essen machte zuckerkrank, und es fehlte an einer geeigneten Behandlung. Gemüse war rar und wurde, wenn es welches gab, mit Mißmut und Verachtung angesehen — wie ein Zwangsvitaminstoß. Er dachte an die streunenden gutartigen Hündinnen, die alle Milch in den Zitzen hatten. Aber wo waren ihre Welpen? Hatten sie sie gut versteckt oder hatte man sie ihnen weggenommen, damit es nicht noch mehr streunende Hunde gäbe? Er dachte an den Besenhändler, der sechs, sieben Besen über der Schulter trug und dazu noch Scheuermittel in einem Sack und lauthals zu singen anfing. Und er dachte an die Menschenaufläufe in den Gassen, die Prozessionen mit Trommelwirbeln und Rasseln, ohrenbetäubendem Lärm, so daß Kornitzer immer zuerst eine Demonstration vermutete, aber in der Mitte des Menschenpulks gingen die Musiker, und rundherum bewegten sich Leute im Tanzschritt. Niemand konnte ihm sagen warum, es war eine Demonstration der Lebensfreude, die die sorgenvollen Europäer einfach nicht begriffen. In Kuba war es fast immer laut gewesen.

Er dachte daran, wenn über den neugebauten, glasverkleideten Brückensteg zwischen Landgericht und Gefängnis auf der Höhe des ersten Stockes Untersuchungshäftlinge geführt wurden und diese mit der Vorführung in keiner Weise einverstanden waren, denn sie waren in ihren eigenen Augen alle unschuldig, protestierten, randalierten, und der Wachtmeister, der die qualvolle Aufgabe hatte, sie vorzuführen, war in Wirklichkeit (also in ihren Augen) ein Verbrecher, der ihre Menschenwürde aufs Tiefste verletzte, und der Haftrichter, der die Vorführung angeordnet hatte, vielleicht nur zur Revision, sowieso. Kornitzer war manchmal so irritiert über das Gebrüll, den Aufschrei einer Menschenseele, der aus der Kehle geschwappt war, vergurgelte und keinen geordneten Weg nach draußen fand, daß er grübelte und sich zu erinnern suchte: Immer wenn er in Havanna Rechtsanwalt Santiesteban Cino in ein Gefängnis begleitete — und das war gar nicht oft, denn dem Rechtsanwalt war es lieb, wenn Kornitzer in seiner Abwesenheit die Kanzlei hütete und eine menschliche Würdeform abgab —, schien der Gefangene vollkommen devot, er schien sich in sein Schicksal ergeben zu haben. (War der kubanische Häftling einfach nicht in der Lage gewesen, sich mittels ein paar Scheinchen aus dem Desaster zu befreien? Oder war er nur deshalb im Gefängnis gelandet, weil er den Anschein erweckte, er könne nicht zahlen, was sich während der fortdauernden Haft dann auch bewahrheitete? Es war wie eine Hitzewallung, wenn Kornitzer an Kuba dachte.)

Die Mainzer Untersuchungsgefangenen, die ihn besonders an heißen Sommertagen, an denen die Fenster offenstanden, mit ihrem Geschrei quälten, schienen vollkommen sicher zu sein, daß sie zu Unrecht inhaftiert seien. Und daß nur ihr entschiedener, lautstarker verbaler Protest, auch ihr abendliches Hämmern und Pochen mit dem Besteck auf dem Gitter des Fensters, das die Beamten sofort unterbanden, sie aus der Erniedrigung befreien konnte. Aber wenn Kornitzer wieder ans Fenster trat, sah er auch Szenen, wie er sie am Landgericht in Berlin und auch in Havanna nie gesehen hatte: Frauen, die Kinder an der Hand hielten, zogen vor den Fenstern der Gefängniszellen auf, schrien den Namen eines Gefangenen. Die Kinder jammerten: Papaaa, Papaaa, ein Fensterchen öffnete sich, und eine bleiche, aufgeregte Gestalt zeigte sich, stemmte sich hoch, schrie die Namen der Kinder. Und schrie: Ich liebe euch alle. Es gab ein Winken, Heulen, Taschentuchschwenken zum Gotterbarmen. Der Inhaftierte rief Namen, Telephonnummern, Wünsche, Flüche hinunter auf die Straße, und die Frau und die Kinder klaubten das wenige, das sie verstanden hatten, auf, als wären darin Perlen zu finden. Es war peinigend zuzuhören, zuzusehen — Szenen „aus dem wirklichen Leben“, ohne jede Poesie, nur aus der Härte der Verhältnisse herausgemeißelt, aber die Szenen blieben ihm im Gedächtnis. Und als Ehemann einer Filmfachfrau mußte er sich an dieser Stelle sagen: Schnitt. Es gab keine weitere Beobachtung, und es gab keine weitergehende Phantasie. Kornitzer blieb mit seiner Erinnerung an solche Szenen allein, und es bestürzte ihn.