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Er fragte sich jetzt manchmal, warum er nicht aus Berlin mit der Bahn nach Oranienburg herausgefahren war, warum er nicht zum Columbia-Haus am Tempelhofer Feld gegangen war, wo 1933 die ersten politischen Gefangenen zusammengepfercht worden waren, während er mit seiner Entlassung aus dem Staatsdienst gehadert hatte. (Er dachte an seine vielen Gespräche mit Fritz Lamm, Lisa und Hans Fittko und Boris Goldenberg und wünschte sich, er könnte jetzt weiter über seine Vorstellungen und auch seine Empfindungen mit ihnen sprechen. Aber er war allein.) Selbst wenn er als ein entlassener Richter nichts für die Inhaftierten in Oranienburg und in dem Stadt-Konzentrationslager am Tempelhofer Feld hätte tun können, nichts für ihre Frauen, ihre Kinder, die vielleicht auch am Zaun standen und schrien, er hatte etwas verstanden: Er hätte etwas für sich getan, Solidarität geleistet, deren Kraft und Vermögen er erst in Kuba begriffen hatte. Das war ein großes Wort, das später wieder verblaßte und einschrumpfte. („Solidarität“: die ihn auch geschützt hätte.) Manchmal glaubte Kornitzer, dem Richter, der für einen bestimmten Strafprozeß nach der alphabetischen Ordnung vorgesehen war, von seinen verstörenden Beobachtungen am Fenster seines Dienstzimmers Mitteilung machen zu müssen, vom Jammer der Kinder, der aufgelösten Frau, dem Winken, der Verbundenheit, die offenkundig war. (Den offenkundig intakten Familienverhältnissen.) Und dann wieder sagte er sich: Die Richter sind frei, frei und nur an die Gesetze gebunden und an ihr Gewissen — und nicht an meine kollegialen Beobachtungen aus den Augenwinkeln. Und der Freiheit wegen, des Vertrauens auf sein eigenes Gewissen wegen, seine Rechtskenntnis vorausgesetzt, war er ja Richter geworden und hatte es bleiben wollen. Er wollte auch nicht nebenbei informiert oder belästigt oder beeinflußt werden. Und dabei blieb es. Aber er behielt diese Beobachtungen im Gedächtnis, konnte sich nicht darum kümmern, wer die Inhaftierten waren. „Verbrecher“ oder wegen eines unsicheren Wohnsitzes in Haft Genommene oder unschuldig Inhaftierte, die schon durch den Makel einer Untersuchungshaft aus ihrem Leben geworfen worden waren. Diese Überlegungen, die sich wie eine zweite Tonspur über die Schreie aus den Fenstern des Untersuchungsgefängnisses legten, hätte er vermutlich nicht angestellt, wäre er selbst nicht so vollkommen aus seinem Leben gerissen worden. Ja, es war eine frühe Entscheidung, dem Strafgesetz durch die Bearbeitung des Zivilgesetzes auszuweichen, aber in der Nähe zu den armen Sündern oder den vermeintlich Ausgesetzten wurde er empfindlich, sie regte ihn auf. Allein die Aktion, die zu Julius Deutschs Befreiung geführt hatte, war ein so enormer Erfahrungsgewinn für ihn gewesen, ein Glücksgewinn, von dem er sich nun wünschte, er hätte ihn in jüngerem Alter gemacht.

Mainz rüstete sich zu, hämmerte, grub, stockte auf. Wo noch vor drei Jahren eine einstöckige Bude aus Holz gewesen war, am Markt, vor dem Dom, in der Augustinerstraße, ein Notverhau, war inzwischen ein Pavillon aus Stein entstanden, ein simpler Flachbau. Genügte der nicht mehr, war er auf ein erstes Stockwerk heraufgehoben worden, dann auf ein zweites Stockwerk, und irgendwie wurde ein Spitzdach darauf praktiziert, nicht so unähnlich dem, das früher an dieser Stelle zu sehen war. Hier wurde ein Trümmergrundstück endlich geschleift, um einen quadratischen, praktischen, schnörkellosen Bau auf die Grundmauern zu setzen. Stand diese Ziegelsteinkiste endlich zwei, drei Jahre ordentlich, ohne zu wackeln und zu zittern auf dem Grundstück, ohne daß es in das Notdach hineinregnete, erinnerte sich der Besitzer wieder, wie aus einem Albtraum erwacht: Wir hatten doch früher eine Madonna am Haus, in einer Nische zur Straßenecke. Dann wurde im nächsten Jahr eine Nische geschlagen, ein neogotisches Dächlein wie ein Zeltdach gebaut, eine Madonna irgendwo auf den Dörfern gesucht, gefunden, nachgeschnitzt — dafür drehte niemand die Hand um — und in den Winkel gesetzt. Es schien, daß das Gedächtnis für das Verlorene, die Schönheit des Verlorenen erst schubweise wiederkam, wie ein Blubbern, Blasen, die an die Oberfläche eines Wassers steigen. Zuerst Nahrung, Kleidung, Heizung, ein Dach über dem Kopf, dann die Gemütlichkeit, und erst recht spät in der weiteren Reihenfolge: die Erinnerung, die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Man konnte die Gedächtnisleistung nicht forcieren, sie verschwand, verblaßte, verwitterte im Lärm der Dampframmen, der Betonmischmaschinen. Die Erinnerung war ein scheues Reh, sie arbeitete nur produktiv, wenn man sie in Ruhe ließ, ihr nicht nachjagte, sie aufstörte. Und wer Photos oder Pläne des zertrümmerten Hauses hatte und es genau so wieder aufbauen wollte, ja, genau so, hatte er es sich geschworen, als es in Trümmern lag, war bald in einem Dilemma. Er erinnerte sich gleichzeitig an die Enge des Einganges, die leere, kalte Pracht der vorderen Zimmer, die kaum genutzt worden waren, an das Unpraktische, Abweisende des alten Hauses, die Zierleisten, die kassettierten Türblätter, die dünkelhaften, tiefen Fensterlaibungen, die Speisekammer, die Abseiten, den Mißmut der Mutter. Sie hatte immer über das unmäßige Staubwischen gestöhnt. (Über die politischen Verhältnisse hatte sie nicht gestöhnt, nicht über die Ohnmacht einer Frau, die doch ein Haus besaß, ein ererbtes Haus, nun ja, die Ohnmacht, die Fassungslosigkeit, das Hergeben der Kinder zu den Flakhelfern, vielleicht hätte man auch die Jungen kurz und knapp krankschreiben lassen können mit einer langwährenden dauernden Blinddarmreizung, bis die Amerikaner kamen: ja/nein, darüber wäre viel zu stöhnen gewesen.) Und kurz darauf war ihr Haus in Schutt und Asche, in mehr als Staub gesunken, und sie selbst sah es nicht mehr mit lebenden Augen. Nein, so wollte man es doch nicht mehr, Neuerungen, Vereinfachungen, billige, praktische Lösungen, abwaschbare, glatte Flächen, Türblätter ohne Widerstand für einen Staubpinsel, keine toten Winkel, und das wäre auch ganz im Sinne der toten, verschütteten Mutter, dachte man, redete es sich selbst schön oder doch zumindest akzeptabel. Und es gab genügend Architekten, die der Schnörkellosigkeit verhaftet waren und nicht zögerten, die Trümmerhaufen mit den Ziegelsteinen, die für sie nicht mehr in Betracht kamen, und die Schneisen, die sich boten, mit Wohlgefallen anzusehen, breitere Straßen, offenere Blicke. Und Betonmauern wuchsen, wuchsen, die Mischmaschinen dröhnten und rumorten, Zimmerleute hoben Balken an mit Hauruck. Kornitzer sah Bauarbeiter in Unterhemden auf den Gerüsten turnen, sie pfiffen den Mädchen nach, die beleidigt den Kopf abwandten, als hörten sie es nicht. Sie warfen in Zeitungspapier eingewickelte Geldstücke herunter und baten Kinder, ihnen Bier zu kaufen, es blieb auch etwas übrig für die Kinder, ein Trinkgeld. Er sah all das kopfschüttelnd und fand sich selbst überempfindlich.

Richard und Claire Kornitzer, die so früh ein kleines Haus bekommen hatten, wie sie es nicht gewünscht und nicht ausgesucht hätten ohne die Not, endlich ein gemeinsames Leben zu beginnen, ein Haus, das ihres war und doch nicht wirklich ihres, ein Opfer-des-Faschismus-Haus, ein fremdes Haus für die wirklichen Mainzer, sahen das Graben, Mauern, Hämmern, das Begradigen, das Umstürzen von Regeln und Rastern in einer kleinteiligen historischen Stadt und die Wildwestmanieren des hektischen Bauens auf alten Grundstücken, die viel zu eng waren für die Licht-, Luft- und Sonne-Ideen, die ihnen beiden aus der Vorkriegszeit überaus bekannt waren. Und sie schüttelten den Kopf, vermieden, allzu häufig zwischen den Baustellen spazieren zu gehen. Aber die Baustellen waren präpotent, sie dehnten sich, stachen ins Auge, waren wie Magnetfelder für den Blick: Hier beginnt etwas Neues. Vorsicht, Sie können auf Splitter und Glasscherben treten. (Und das Schlimmste wären Blindgänger.) Das war als Warnung akzeptabel.