1948 war an der Großen Bleiche das erste mehrgeschossige Kaufhaus errichtet worden. Aber erst Ende 1951 waren alle Straßen, Plätze, Bürgersteige der Innenstadt wieder zugänglich geworden. Von den Rändern der Alt- und der Neustadt aus wurden die Trümmer beseitigt. Maulwurfsartig wühlte sich die Trümmerbeseitigung zum Kern der Stadt vor, und ebenso begann der zögerliche Wiederaufbau an den Rändern, nicht in der Stadtmitte, und niemand konnte erklären, warum das so war. Als müßten Fäden zum Belebten, Unzerstörten geknüpft und verknotet werden. Ein einzelnes wiederaufgebautes Gebäude, das auf leere Flächen schaute, schien unerträglich zu sein.
Ja, ein kleines Zitat des Woga-Komplexes eines inspirierten Architekten hätte Richard und Claire Kornitzer überzeugt, ein kühner Schwung, eine ungewöhnliche Dachkonstruktion, und sie dachten an Erich Mendelsohn mit einer Art verehrungsvoller Andacht. Wo mochte er jetzt sein? Was baute er jetzt? Wie würde er auf den Zusammenbruch Deutschlands und die Chancen, eine moderne Stadt auf den Weg zu bringen, reagiert haben, und seien die Chancen, sie zu bauen, noch so bescheiden, wenn er nach Deutschland zurückgekommen wäre oder doch noch käme? Es war ja noch nicht zu spät. Oder? Die Kornitzers wußten es nicht. Vielleicht gab es Fachleute, Architekten, Stadtplaner, die es wußten, aber der Faden war abgeschnitten, nur fünf Prozent der Emigranten aus Nazi-Deutschland waren zurückgekehrt, eine Minderheit der Minderheit. Mendelsohn war über die Niederlande nach London emigriert, wo er sofort mit einem englischen Partner ein neues Architektenbüro gründete. (Wie schaffte er das?) Er war einer der ersten aus der Sektion Bildende Kunst in der Preußischen Akademie der Künste, dem der Austritt nahegelegt wurde. Er trat nicht aus, sondern akzeptierte in einem vornehmen Brief den Ausschluß, das war fast eine Ehre. Weiteremigriert war er nach Jerusalem, London war ihm zu nah am faschistischen Deutschland, aber er behielt einen Fuß in London. (Wie, wie, hatte er dort Mitarbeiter, Nachfolger installiert?) Nein, wie in Berlin und wie in England wollte er in Palästina nicht mehr bauen, er studierte die orientalische Bauweise. Als einen Orientalen aus Ostpreußen bezeichnete er sich jetzt scherzhaft, das hätte Claire und Richard Kornitzer gefallen. Schatten, Energieerhaltung, Durchlüftung interessierten ihn. Die Balkone, die seine Nachahmer-Architekten in beliebiger Menge an die neuen Mietshäuser in Tel Aviv klebten, schienen ihm für das subtropische Klima ganz ungeeignet. Er experimentierte mit Innenhöfen, baute Swimmingpools, repräsentative Baumassen hinter schweren, kühlenden Steinverkleidungen und entwarf jedes Detail, auch der Inneneinrichtung. Aber Palästina war klein, die britische Mandatsmacht stellte enge Bedingungen, zum Beispiel, daß in einem Krankenhaus jeweils für die neuen Einwanderer und für die Angehörigen der Besatzungsmacht Wassertoiletten gebaut wurden, für die arabischen Patienten dagegen Latrinen. Kein Verhandeln half, die Engländer hatten unumstößliche Meinungen.
1941 verlegte Mendelsohn seinen Wohnsitz in die USA, für ihn war das relativ einfach, ein Freund hatte ihm ein Affidavit ausgestellt, das für andere Emigranten ganz unerreichbar war, ja, in traumhafter Ferne war und blieb. Nun wollte er seine Architekturideen ins Globale übersetzen, er dachte nicht mehr über Gebäude nach, sondern über Straßenzüge, über Flughäfen als Eintrittstore auf einen Kontinent, über eine Weltuniversität, er zeichnete Entwürfe für Baukörper, die wie aus dem Wasser tauchende U-Boote aussehen, kritzelte utopische Entwürfe auf die Hüllen der Schallplatten, die er abends hörte. Er hatte eine unerhörte Schaffenskraft, durfte aber nicht bauen, ehe ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen worden war.
Seine Energie fand ein anderes Ziel. Die US Air Force hatte sich in der ersten Zeit nach Kriegseintritt auf die Bombardierung deutscher und japanischer militärischer und industrieller Ziele konzentriert. Das sollte sich ändern nach der Entwicklung einer neuen 6-Pfund-Brandbombe (M69), die von der Standard Oil Company auf der Basis eines Öl-Gelees entwickelt worden war. Roosevelt faßte zusammen mit dem Präsidenten von Standard Oil, dem General des Chemical Corps und dem ranghöchsten General der US Air Force den Entschluß, daß diese Bombe unter möglichst wirklichkeitsnahen Bedingungen getestet werden solle. Es war Roosevelts Entscheidung, daß nur an originalgetreuen städtischen Gebäuden nach deutschem bzw. japanischem Vorbild die Wirkkraft getestet werden könne. Das war die Stunde des Stararchitekten aus Deutschland. Rasch wurde ein German Village auf dem Militärgelände Dugway Proving Ground in der Wüste Utah errichtet, absolute Ähnlichkeit, Materialtreue, hieß der Auftrag. Und Mendelsohn baute, wovor ihm eigentlich schaudern mußte, zwölf Gebäude als dreistöckige Arbeiterwohnungsblocks mit verputzten Ziegelwänden: die eine Sektion mit Schieferdächern wie im Rheinland, die andere mit Ziegeln, eher im Stil einer norddeutschen Großstadt. Berliner Arbeiterviertel zu bombardieren, schien sehr viel schwieriger, die Bauqualität war besser, die einzelnen Blocks durch die Brandmauern besser voneinander getrennt, so daß das Feuer weniger leicht überspringen konnte. Größten Wert wurde auf die Dachkonstruktionen gelegt, da die Bomben zunächst die Dachstühle in Brand setzen sollten. Die Baufirmen stellten sicher, daß das verwendete Holz in der Alterung und in der Dichte dem deutschen entsprach. Dachbalken wurden sogar aus Murmansk importiert. Allerdings wandten die Brandexperten ein, Dugways Klima sei viel zu trocken für eine Simulation. Deshalb mußten GIs die Häuser immer wieder unter Wasser setzen, um den Hamburger Nieselregen nachzuahmen. Der Bau der ganzen (streng geheimen) Anlage nahm nur 44 Tage in Anspruch. Strafgefangene des Gefängnisses Sugar House in der Nähe halfen. Die Häuser im German Village wurden mit deutschen Textilien — Bettdecken, Vorhängen — und schweren, klobigen Möbeln eingerichtet, wie sie Mendelsohn in keinem seiner Häuser geduldet hätte. Aber nur an „typischen Einrichtungen“, wie sie die hinzugezogenen Filmausstatter beisteuerten, konnte das Brandverhalten im Detail studiert werden. Zwischen Mai und September 1943 flog die US Air Force mindestens drei große Angriffe auf das German Village und studierte die Folgen.
Diese stufenförmige Ablaufgeschwindigkeit von Biographien, ihr Ordnungsgefüge, ihre Strukturiertheit — Claire und Richard stellten sie sich vor, empfanden sie, aber es gab kein Halten, keinen Zweifel am Bekenntniswert des Biographischen, den puren Daten und Fakten. Anonymisierung, Geheimhaltung war das eine, Vergessen und Verdrängen und das Umwidmen der Motive war das andere, das eine Biographie ausmachte. Hatten sie selbst eine Biographie? Oder war schon das Wort in Zweifel zu ziehen? Hinter die Stirnen und hinter die Motive blickte niemand, die Geschichte, auch die der Personen, schwieg.
1947 nahm Mendelsohn einen Lehrauftrag an der Universität von Berkeley an, lehrte die Studenten seine kühnen Bauauffassungen. In der Folge baute er in den USA vorwiegend Synagogen. Solche, die man nicht nur am Sabbat besuchen konnte und sollte, sondern solche, die Gemeindezentren wurden mit den verschiedensten sozialen Einrichtungen, Campussynagogen wurde ein gängiger Begriff. Synagogen als Schiffsmetaphern, Archen für die Gläubigen, expressionistische Gebärden in Stahlbeton, kühne Schwünge in der Funktionalität. Viele geplante Großprojekte Mendelsohns kamen trotzdem nicht zustande. Nicht einmal ein Denkmal für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in New York mit hochaufgerichteten Gesetzestafeln am Riverside Drive wurde gebaut, obwohl es bewilligt worden war und die Regierung Jugoslawiens den Granit dazu spenden wollte. (Vielleicht darum nicht?) Es kam auch deshalb nicht zustande, nicht weil ein anderer Architekt ihm den Auftrag wegschnappte, sondern weil niemand ein solches prominentes Monument des Gedenkens wirklich wollte. (Später vielleicht einmal.) Es schien, daß Mendelsohn, je länger er von dem liberalen, assimilierten Judentum Berlins entfernt leben mußte, immer jüdischer geworden war, während Kornitzer sein Judentum verlor, es war eine lose Hülle, in der er steckte; schon der Zwischenraum schmerzte. Oder ergab sich aus den Aufträgen eine gewisse Ideologisierung des Bauens? Würdeformen? Sinnstiftungen? Es mußte Mendelsohn enttäuschen, daß er, ein Kraftprotz unter den Architekten, große Pläne in Amerika nicht verwirklichen konnte. Und so, das mußte man sich als ein Verehrer und eine Verehrerin des großen Architekten in einer kleinen deutschen, baulich vermasselten Großstadt zusammenreimen, wird seine Bilanz am Lebensende nicht ganz glücklich gewesen sein. Und das war verständlich. Und wie würde die eigene sein?