Dann fanden sie die Todesnachricht, Mendelsohn war am 15. September 1953 an einem Krebsleiden in San Francisco gestorben, seine Asche war zerstreut worden, mehr lasen sie nicht, aber es beschäftigte sie. Sie stellten ihn sich jung vor, dynamisch, berlinerisch, aber nun war er gerade einmal 66 Jahre alt geworden, und sie wußten nicht, wie er von da, wo sie sich ihn vorstellen konnten, nach dort in dieses vorgerückte Lebensalter gekommen war. Ob er noch weiße Anzüge in Kalifornien getragen hatte? fragte sich Claire insgeheim. Oder nur noch weiße Anzüge? Aber sie konnte sich weder Kalifornien vorstellen noch Kuba, weder ihren Mann auf einer mit Palmen gesäumten Straße, Schatten suchend, noch den verehrten Mendelsohn im trockenen Klima am Pazifik, sie konnte sich ihr eigenes junges Leben in Berlin kaum mehr vorstellen, seine Dynamik, die Freude, den grenzenlosen, nun schon kalifornisch weit wirkenden Wilmersdorfer, Halenseer Optimismus, von dem nichts übriggeblieben war. Als wäre es immer Sommer auf den Tennisplätzen hinter dem Haus gewesen, als wären sie täglich im Wannsee-Schwimmbad gewesen.
Sie gingen spazieren auf der Gemarkung Großer Sand und immer noch vorwiegend am Rheinufer, die Schiffe kamen von links, rheinabwärts, und von rechts rheinaufwärts, ein großes Wassertheater mit Auftritten und Abtritten nach Norden, nach Süden, Schiffe tuckerten, schnitten mit ihrem Kiel durch die Wellen. Das Gleichmaß tat gut, wie eine Mäßigung der überschäumenden Empfindungen. Dort am Rheinufer wurde noch nicht gebaut, das Schloß war noch ein Behelf, die Landesregierung notdürftig im Flügel des Schlosses an der Diether-von-Isenburg-Straße untergebracht, für die Ministerien wurde gebaut, und im Vorläufigen war auch ein Versprechen, wenn man es hören, erahnen wollte.
Richard und Claire waren allem Neuen aufgeschlossen, der Wiederaufbau! der Stolz der Städte! sie erwarteten etwas Neues. Aber alles war so bretzelig, so unmutig, kleinteilig, ins Ungefähre gesetzt, als könnte man morgen wieder alles abreißen, was in den Sand gesetzt war, als wären die alten Ziegel, die verwendet worden waren zum Wiederaufbau, doch allzu brüchig. Ja, manchmal dachten sie, man baut hier, als ob bald wieder eine Zerstörung stattfinden könnte, der kalte Krieg und seine punktuelle Erhitzung, der mögliche Atomkrieg, man müßte sich in einen Iglu flüchten, einen Bau, von einer abhebbaren Moosschicht verdeckt, wünschenswert wäre es, den Bau nie wieder zu verlassen, einen Ort jenseits der Verfolgung, jenseits der Belagerung, fern von Nagern und Neidern. Dunkelheit, Moder, Tapetengeknister. Wohnen war eine innere Schanzarbeit gegen schmerzhafte Empfindungen: Und dann wäre es kein so großer Verlust, wenn die flüchtig wiederhergerichteten Gebäude erschüttert wären, man baute wieder auf.
Und dann fanden sie sich selbst nach solchen Spaziergängen und Überlegungen auch ungerecht und hochmütig. Was wußten sie, wie man Berlin wieder aufbaute? Ob man die Stadt überhaupt wieder in den Griff bekam oder man sie als eine Budenstadt beließ, einstöckig, kriecherisch bucklig, ameisenhaft unter der Obhut der Alliierten? Das änderte nichts daran, nichts überzeugte sie wirklich. Himmler hatte großsprecherisch 1943 vor deutschen Bürgermeistern gesagt, die Bombenangriffe hätten auch ihr Gutes, aus ihnen ergäben sich auch Vorteile für ein nationalsozialistisches Stadtoberhaupt. Die Städte und Gemeinden könnten danach ohne die Bausünden des 19. und 20. Jahrhunderts, wo regellos und ohne Sinn liberalistisch gebaut wurde, im Sinne echter NS-Architektur neu errichtet werden und die Oberbürgermeister ihren Namen in die Geschichte ihrer Stadt einmalig einschreiben. Dazu war es nicht gekommen, und die nachfolgenden Oberbürgermeister, zuerst von den Alliierten eingesetzt, verwalteten den Mangel, sie hatten keine Vorstellung von einer zukünftigen Architektur, die Geschichte war ein Krater.
Und die Kornitzers waren von sich selbst und ihren Meinungen auch nicht überzeugt. Wir wursteln uns durch, dachte Kornitzer dann und schob den Gedanken rasch wieder beiseite, denn er taugte zu keiner weiteren Überlegung, nur zur skizzenhaften Beschreibung eines Zustandes. (Manchmal dachte Kornitzer an Breslau, an die schönen Maße der Stadt, an ihr langsames Gewachsensein, erinnerte sich sehnsüchtig, aber das hatte keine Auswirkung auf sein Befinden in Mainz, der Vorkriegszustand der Stadt war gar nicht mehr zu erahnen. Eigentlich hätte ihn das traurig machen müssen, aber er war auf vielfältige andere Weise traurig und auch sehr beschäftigt. Es war, als zöge diese Alltagstristesse nur wie ein grauer Schleier an seinen Augenwinkeln vorbei, während er sich auf Wesentlicheres zu konzentrieren suchte. Und Claire hatte nie eine mittelalterliche Stadt gekannt, sie war Berlinerin mit Haut und Haaren (Leib & Seele?) und nicht an Nischen, Winkeln, Gewölben, Gassen und Madonnen-Erkern interessiert.
Was sie nicht wußten, war, daß die französische Besatzungsmacht schon 1947 eine Architektengruppe um Marcel Lods beauftragt hatte, einen Gesamtplan für den Wiederaufbau von Mainz zu erstellen. Lods tat das in großer Verwandtschaft zu den Nachkriegsplänen von Le Corbusier. Der Schutt sollte wie ein Wall dem Hochwasserschutz am Rhein dienen. Aber Mainz sollte zur modernsten Stadt der Welt werden und die Altstadt gleichzeitig als Traditionsinsel erhalten bleiben. Die Neustadt — oder was von ihr übrig war — sollte abgerissen und durch zehnstöckige Scheibenhäuser ersetzt werden, Standorte für die Verwaltung und Gewerbeflächen konsequent getrennt: die Industrie nach Gustavsburg, die Verwaltung entlang der Achsen Kaiserstraße — Große Bleiche, die weitgehend zerstört waren, angesiedelt werden, dazwischen ein aufwendiges System neuer Straßen, Schneisen, die die einzelnen Segmente miteinander verbanden und formal trennten. Die weniger wichtigen Teile von Mainz sollten eine Art von Gartenstadt werden. Weiträumigkeit, Funktionalität, menschenwürdige Behausungen, in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft, waren die Schlagworte, und all das im lichten Geist französischer Rationalität, für die sich die wieder fromm gewordenen Katholiken nach ihrer Enttäuschung über den Führer, der sie im Schlamassel hatte sitzen lassen, herzlich wenig interessierten.
Die Maaraue sollte zu einem weitläufigen Sportzentrum entwickelt werden. Aber wohin, wenn die Sportler danach in eine Kneipe wollten, wohin, wenn die traditionellen Weinstuben-Verhocker spätabends in eines der weit entfernten Scheibenhäuser wollten, wo ihre Frauen gänzlich altmodisch auf dem Sofa warteten? Solche individualistischen Abenteuer interessierten die Architekten nicht. An Spaziergänger, an Querläufer zwischen den Quartieren, an Leute, die mit ihrem Hund herumgingen, an Mütter mit Kinderwägen war nicht wirklich gedacht. Jeder hatte eine Funktion, ein Terrain, der Architekt hatte angeblich an alles gedacht, nur nicht an die Freiheit des Stromerns, die Neugier jenseits der Funktionen.
Der neu gewählte Stadtrat von Mainz lehnte den Plan einstimmig ab, kein Geld, keine Phantasie, kein Mut. Lods entfernte sich, resignierte, und kein französischer Architekt, kein Modernist wurde in den nächsten Jahren in der Stadt gesehen. Ein zweiter Architekt, diesmal ein deutscher, wurde mit der Stadtplanung beauftragt, auch sein Plan wurde nicht umgesetzt, Zufälligkeiten und Kompromisse regierten den Wiederaufbau. DER GROSSE WURF war unheimlich, eine neue Totalität, vor der man sich wegduckte, und am Ende wurde die Stadt so, wie niemand sie sich vorgestellt hatte, aber sie wurde.