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Insofern waren Richard und Claire zufrieden mit dem Schindelhaus, das sie bewohnten, das vor der verblaßten Erinnerung an das Neue Bauen, vor all den Überlegungen zum Praktischen ohne viel Theorie in Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern gebaut worden war. Ein gemütliches Haus, aber Claire und Richard waren nie fürs Gemütliche gewesen, eher fürs Ausgefeilte, Strenge, Strukturierte. Ihr Haus war eine Art von verkleinertem städtischem Schwarzwald-Haus, ohne architektonischen Anspruch. Den hatten sie in Berlin zurücklassen müssen, aber doch nicht vergessen. Aber wenn das Ehepaar in die Domnähe kam, zum Fischtorplatz, zum Flachsmarkt, in die Mailandsgasse, wenn sie die Buden entlang der Ludwigstraße und der Großen Bleiche sahen, Buden wie Unterstellhäuschen an Straßenbahnhaltestellen, zuckten sie zusammen, und es schmerzte wirklich. Kornitzer hatte noch die Kraterlandschaft seiner ersten Spaziergänge in Mainz in Erinnerung, und jetzt wurde gebastelt und gebaut, gegraben und unterhöhlt und überwölbt. Und doch ging alles schleppend, als wären nicht nur Gebäude zerstört, es war, als hätten die Bombenangriffe das Herz der Stadt getroffen. Und mühsam, mühsam müßte es erst wieder aktiviert werden. Claire sprach wieder vom Ku’damm als einer Sehnsuchtsstraße, sie sehnte sich nach Eleganz, nach Schnelligkeit, zurück zu ihrem stromlinienförmigen Büro in der Nähe des Universum, sie sehnte sich auch nach dem Werbefilm. Das konnte Kornitzer gut verstehen, aber doch der unzerstörte Ku’damm! wandte er ein. Aber da sie ihn beide nicht mehr gesehen hatten seit so langer Zeit, war die Klage auch in den Wind gesprochen.

Und dann fällt es Claire plötzlich wie Schuppen von den Augen. Wie eine Fata Morgana sieht sie es in weiter Ferne, nicht eine neu errichtete Bude im funzeligen Licht. Sie sieht etwas vor sich, und das strafft sie, erregt sie auch. Sie schläft schlecht, aber es ist keine zehrende Schlaflosigkeit, sondern eine energische, kraftspendende, trotz ihrer Nierenkrankheit (oder vielleicht wegen ihrer Nierenkrankheit, die sie matt und bekümmert macht). Es ist wie ein nächtliches Aufrechtsitzen, eine Erhebung. Sie fährt mit der Straßenbahn in der Stadt herum, betrachtet Grundstücke und Baulücken und schreitet sie ab. Sie betritt auch eine Bank, fragt nach dem Filialleiter, er ist nicht da, und dann vereinbart sie einen Termin mit einem der Bankangestellten. Nein, nicht mit ihm, sondern vermittelt durch ihn mit dem Filialleiter. Aber der läßt zurückfragen: In welcher Sache? Sie nennt die Sache und bekommt zu hören: Wollen Sie nicht mit Ihrem Gatten gemeinsam zu einem Gespräch kommen, Frau Landgerichtsdirektor? Es handelt sich doch um eine größere Investition. Sie schluckt, das hat sie noch nie gehört. Sie ist davon überzeugt, daß ihr Mann endlich, endlich Wiedergutmachungsgelder für die erlittenen Jahre bekommt, und auch ihr würde etwas zustehen für die erzwungene Trennung, für den Verlust ihrer Firma, das Aus-der-Bahngeworfen-Sein. Man hatte ihre Firma vor ihren Augen zugrunde gerichtet. Sie ist Geschäftsführerin einer GmbH in Berlin gewesen. Aber insgeheim sagt sie sich: Vielleicht — nicht vielleicht, sicher! — war ich energischer damals, es machte mehr Freude, mit mir allein zu verhandeln. Sie schluckt noch einmal, sie strafft sich, sie unterdrückt den Ärger über die plötzliche Unterlegenheitsposition, in die sie sich ungerechtfertigterweise gebracht fühlt.

Und an einem Sonntagabend nach einem besonders gelungenen Abendessen, glaubt sie, gibt sie sich einen Ruck. Sie hat Forelle blau auf den Tisch gebracht, das Forellenquintett von Franz Schubert strudelt dazu aus dem Plattenspieler, und zum Nachtisch hat sie langsam, langsam rührend im Wasserbad eine Rieslingcrème bereitet, die nicht ganz steif geworden ist, warum auch immer, aber sie schmeckt wunderbar. Das hat sie als einigermaßen spät berufene Köchin in Erfahrung gebracht: Wird die Crème steif, schmeckt sie leicht wie Pudding. Gelatine oder Mondamin zu verwenden, wie sie es in Rezepten gelesen hat, lehnt Claire ab. Rührt und rührt man, bleibt die Crème leicht und schaumig, kann aber wie ein Soufflé abstürzen und zusammenfallen, die Gründe weiß man nicht, und die Enttäuschung ist groß. Nach dem Essen nimmt sie Richards Hände in ihre, schaut ihn nach der sorgsamen Vorbereitung an mit ihren grünen Augen, die funkeln, saugt sich fest mit ihrem Blick. So intensiv hat sie lange nicht geschaut. Richard, sagt sie: Hätte ich ein Kino! Und sie berichtet, was sie ausgekundschaftet hat: Wie groß ihr der Bedarf in der Stadt erscheint, schlechte Wohnverhältnisse, Enge, Wünsche, die ins Allgemeine driften, Wünsche, die das Stadttheater, nun ja, nicht erfüllen kann und nicht erfüllen möchte. Also ein Kino, die Kinowerbung, die sie beherrscht, scheint ihr minderwertig, jedenfalls in Mainz. Soll sie zu Hinz und Kunz laufen, um eine Anzeige zu ergattern? Kinowerbung kann man nur in einer Großstadt auf die Beine stellen, das hat sie sich klar gemacht. Man muß größer beginnen, das Medium Film als Ganzes begreifen, eher zu einem Film die entsprechende Werbung organisieren, einen Abend aus einem Guß. (Und so hat sie ja schon dieses Abendessen mit ihrem Mann organisiert, mit ihm, dem ersten Vertrauten und vielleicht auch Geldgeber.) Während sie diese Gedankengänge vor ihm entfaltet, leuchten nicht nur ihre Augen, auch die Backen werden rot, und sie versäumt es nicht, ihrem Mann und auch sich selbst von dem beim Kochen übriggebliebenen Riesling einzuschenken, es ist ja nur noch etwas mehr als eine Pfütze.

Richard schweigt, schweigt vielleicht schon ein bißchen zu lange, sie sieht ihn erwartungsvoll an, dann nimmt er seine Brille ab. Klärchen, sagt er, das hat er lange nicht gesagt, also das ist es. Du kamst mir so verändert vor in der letzten Zeit, beschwingter, auch jünger. Daß er geglaubt hat, sie sei beim Friseur gewesen, und er habe es nicht sofort gemerkt, verschweigt er lieber. Und dann kann er nicht mehr schweigen und sagt: Das geht nicht. Es geht einfach nicht. Die Frau eines höheren Beamten, die Frau eines Landgerichtsdirektors — er dehnt die Vokale seines Titels ins Unermeßliche — kann nicht einfach eine Unternehmerin werden, und dazu noch auf einem so fragilen, nicht einzuschätzenden künstlerischen oder auch abschüssigen Feld. Als er „das geht nicht“ sagte, fiel ihm auch wieder ein, wie Charidad ihm verzweiflungsvoll gesagt hatte, was sie als Lehrerin kann und was nicht sein darf — und wie fassungslos er ihr, der Kenntnisreichen, zuhören mußte. Kornitzer übersprang, daß er wegen seiner beruflichen Belastung keine Ahnung von der aktuellen Kinoproduktion hatte und das auch als keinen Makel ansah, und er wußte, daß auch Claire nicht übermäßig viele Filme gesehen hatte, die man jetzt in die Kinos hätte bringen sollen. Daß sie keinen Überblick über die Mainzer Situation hatte und vielleicht auch zu arrogant war, sie wirklich zu ergründen, ersparte er ihr als ein Argument. Es geht nicht, es geht nicht. Die Frau eines Landgerichtsdirektors kann nicht.

Das kam bei ihr an. Und sie räumte den Eßtisch ab, schweigend, verstimmt, spülte die Desserttellerchen und polierte die Weingläser, telephonierte noch am späten Abend mit Selma und George, Richard hörte nicht, was sie sagte, wollte es auch nicht wirklich. Es war ein Sehnsuchtsanruf, ein Anruf wie ein Appell. Denkt auch an mich, eure Mutter. Und er empfand sich selbst als hart, aber gerecht und vernünftig. Er konnte sich auch die süffisanten Bemerkungen im Landgericht vorstellen: Ihre Frau hat ein Kino aufgemacht?! Als hätte Claire einen Flohzirkus begründet, würde kleine Hundchen nach Bällen schnappen und sie auf der Nase balancieren lassen, als stellte sie lustige Liliputanerleutchen in Goldtressenuniformen aus. Das Kino, so schien es ihm in der Stadt Mainz, war selbst eine Art von vergrößertem Flohzirkus, der seine Position schmälerte oder ins Schräge, Unseriöse zog. Nein, es ging wirklich nicht, es war nicht „standesgemäß“, ein anderes Wort fiel ihm zu seinem Befremden nicht ein, vom unternehmerischen Risiko, das Claire vorausgesetzt hatte, einmal abgesehen. Er war einsam genug mit seinen Meinungen im Landgericht.