Выбрать главу

Claire zieht sich in ein Schweigen zurück, sie ist ihrem Mann nicht wirklich böse, ihr Mann ist nur der Vertreter, der Vermittler einer Realität, die sie nicht anerkennen will. Der Mensch in der Bank ist ein anderer Vertreter, die Kindergeldstelle des Landes auch eine andere, es ist eine Realität, die ihr feindlich ist, der sie den Rücken kehren möchte. Aber wohin?. Es schmerzt sie, als wäre sie an einem anderen Zeitufer stehengeblieben, und das Schiff wäre ohne sie abgefahren, ja, hätte ihr den Zutritt verweigert, nur weil sie eine Frau war. (Und was hieß „nur“?) Die Frau eines Landgerichtsdirektors. Jetzt klang es in ihren Ohren wie Hohn.

Claire hatte alte Kino-Adreßbücher aufbewahrt. Im Vorwort des Bandes von 1939 hatte der Leiter der Abteilung Film im Propagandaministerium, Dr. Fritz Hippler, geschrieben: Es versteht sich von selbst, daß die Aufgaben des Krieges besondere Anforderungen in jeder Hinsicht mit sich brachten. Trotzdem kann festgestellt werden, daß der Krieg für das gesamte deutsche Filmwesen nicht nur keine rückläufigen Tendenzen, sondern im Gegenteil eine unerwartet hohe Aktivierung herbeigeführt hat. Da hatte man ihr die Firma Prowerb längst abgeluchst und kaputtgemacht. Aus den vielen Initiativen, Filmfirmen und den Verzeichnissen der Schauspieler, freien Kameraleute, Regisseure, einem glanzvollen Who is Who des Kinos, war ein tristes Verzeichnis der Mitglieder der Reichsfilmkammer und der für den Film wichtigen Behörden- und Parteistellen geworden. Ein Dokument der Gleichschaltung. Nichts vom Glanz war geblieben, das Kino war in die Kriegswirtschaft getaucht, und Claire war nicht mehr ins Kino gegangen, sie wollte nicht mit Leuten, mit denen sie nichts zu schaffen hatte, im Dunklen sitzen. Sie ertrug das dröhnende, röhrende Heldentum nicht. Ehefrauen und Bräute schleppten ihre Soldatenmänner, wenn sie Heimaturlaub hatten, ab ins Kino. Dort mußte man nicht sprechen, dort war die Entfremdung der Lebensbereiche in zuckersüße Watte gepackt. So waren die Kinos immer voll. Im Vorwort des Kino-Jahrbuches wurden die Etappensiege gemeldet: Seit Kriegsbeginn weisen die Lichtspieltheater eine Besuchersteigerung von 14 Prozent und eine Umsatzsteigerung von 12 Prozent auf. Für das Jahr 1940 dürfen wir unter Zugrundelegung der Zahlen des letzten Halbjahres mit einer Besucherzahl von 700.000.000 und einem Umsatz von 500.000.000 RM rechnen. Damit erreichen wir für sämtliche Filmhersteller, die vor wenigen Jahren zum Teil noch beträchtliche Verluste aufwiesen, eine Liquidität, die sich wiederum auf die weiteren Filmvorhaben befruchtend auswirken wird. Claires Vorhaben waren nicht befruchtet worden, sie waren in den Sand gesetzt, sie war eine Außenseiterin geworden, ökonomisch schwer geschädigt.

An einem der nächsten Abende schellte es spät. Kornitzers waren Gäste nicht gewohnt. Claire öffnete, und vor ihr stand die sehr aufgeregte Frau Dreis in einer Strickjacke. Sie bat darum, den Landgerichtsdirektor sprechen zu können. Jetzt? rutschte es Claire ziemlich ungastlich heraus, aber Frau Dreis sagte nur flehentlich: Bitte. Claire führte sie ins Wohnzimmer, rief Richard und verschwand dann im oberen Stock. Warum kam sie? fragte Claire ihren Mann, als die Haustür wieder zugefallen war. Und was wollte sie? Ihr Sohn Benno, den du nicht kennengelernt hast, hat ein Problem. Sie hat das umständlich und verbrämt ausgedrückt, jemand sei ihm in die Quere gekommen, jemand hätte doch besser auf sein Geld aufpassen sollen, jemand habe ihn so gereizt, daß er nicht anders konnte als ihm einen Schaden zuzufügen. Leider ist er aufgeflogen und sitzt jetzt in Untersuchungshaft. Er hat wohl eine Unterschlagung begangen, so muß man es nennen. Und was hast du damit zu tun? fragte Claire. Nichts, natürlich, ich mußte Frau Dreis erklären, daß ich nicht für das Strafrecht zuständig bin und daß es insgesamt eine ungute Sache ist, zu versuchen, einen Richter zu beeinflussen, Mitleid zu erwecken. Das verstand sie, sah mich aber mit einem solchen Grabesblick an, da konnte ich sie nicht gleich hinauskomplimentieren. Immerhin habe ich eine ganze Weile unter ihrem Dach gewohnt, und sie hat mich auf sehr nette Weise versorgt, du weißt es. Und für dich und Selma hat sie gebacken. Ich weiß, und Selma hat sich wie ein verhungertes Tierchen auf den Käsekuchen gestützt. Und als ich dann später Selma daran erinnerte, hatte sie den Käsekuchen vergessen, antwortete Claire, und es klang gedehnt und auch nicht inspiriert. Was Kornitzer Claire nicht sagte, was ihm selbst sonderbar vorkam, war: Er hatte eben Frau Dreis gefragt, ob ihr Sohn denn schon einen Rechtsanwalt habe, der Benno vertreten wolle. Nein, hatte sie geantwortet, danach wollte ich Sie auch fragen, aber ich hätte es beinahe vergessen. Kornitzer hatte kurz nachgedacht: Wer könnte sich für Benno Dreis interessieren, wer für ihn stark machen? Namen und Gesichter schwebten durch sein Hirn, aber er fühlte sich auch blockiert. Und dann sah er in sein Notizbuch und schrieb Frau Dreis einen Namen und eine Telephonummer auf. Er gab ihr die Hand, nickte und sagte: Viel Glück. Und Grüße an Ihren Mann. Die Schwiegertochter grüßte er nicht. Und als er die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fragte er sich: Warum habe ich ihr den Namen und die Nummer von Rechtsanwalt Damm, dem Ranschmeißer, dem Alles-und-Jeden-Verteidiger, aufgeschrieben, der an alte Zeiten erinnerte, von denen ich nichts weiß? Warum? Er wußte es selbst nicht, und das war ihm unheimlich. Er tat etwas, was er eigentlich nicht gewollt hatte. Und wollte es jetzt, da es geschehen war, schnell wieder vergessen. Er kannte sich selbst nicht gut.

Am 18. September 1953 war das Bundesergänzungsgesetz in Kraft getreten, das allen durch den Faschismus Geschädigten das Empfinden gab, nun endlich — acht Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus — würde ihnen Genugtuung geschehen. Es war aber eine überstürzte Maßnahme, um ein besseres Entschädigungsgesetz, das als Initiativentwurf schon beim Bundesrat lag, zu verhindern. Diejenigen, die Papiere, Akten, Rechnungen aufbewahrt hatten, fühlten sich bestätigt. Kornitzer las das neue Gesetz, das das Finanzministerium durchgepeitscht hatte, mit seinem kritischen Berufsverstand und war sehr enttäuscht: Es war eine Inflation der Worte; Streit, Mißhelligkeiten, eine Auslegung zuungunsten der Opfer war vorauszusehen. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt bezeichnete das Gesetz als nicht nur rechtstechnisch, sondern auch moralisch als so schlecht, daß man sich wieder schämen müsse, ein Deutscher zu sein. Das, was versprochen, erwünscht war, war mit diesem Gesetz nicht im mindesten erreicht. Mit anderen Worten: Nicht nur Kornitzer, der Landgerichtsdirektor, sondern alle, die nicht nur Opfer waren, sondern auch kenntnisreiche Beobachter der Behandlung der Opfer (und auch des Durchwinkens der Täter) waren sehr, sehr enttäuscht und hofften darauf, eine Revision des Gesetzes würde mehr Gerechtigkeit schaffen. (Die Wiedergutmachungsgegner, vorwiegend aus dem Lager der CDU und FDP, hüllten sich in dieser Zeit in Schweigen.) Nicht die geringste Chance hatte auch der Versuch des Abgeordneten Adolf Arndt, dem Gesetz eine Art von Präambel zu geben: Dieses Gesetz ist großherzig so auszulegen und anzuwenden, daß sein Vollzug im Höchstmaß die Wiedergutmachung als sittliche Aufgabe und rechtliche Schuld erfüllt.

In der Folge siegte die Paragraphenreiterei, die kleinliche und schleppende Bearbeitung der Anträge. Man wollte Bittsteller in den Ämtern und in den Wiedergutmachungskammern der Gerichte, keine Anspruchsberechtigten. Völlig neue Krankheitsbilder, die keinem gängigen Schema zuzuordnen waren, mußten diagnostiziert und den Ämtern vermittelt werden: Entschädigungsneurosen, Entwurzelungsdepression, erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel.