Der SPD-Abgeordnete Hermann Runge berichtete nach einem Zeitungsartikel im „Aufbau“ vom 17. September 1954, daß allein in New York 15.000 anspruchsberechtigte Emigranten im Alter von über 75 Jahren lebten. Auf die Beschwerde eines 78jährigen hin schrieb die entsprechende Behörde, daß sie zur Zeit nur die Anträge der über 80jährigen bearbeiten könne und sein Antrag deshalb vorerst ruhen müsse. Der Baden-Württembergische Justizminister verstieg sich zu der Aussage, die Antragsteller seien Rentenjäger. Im Frühjahr 1956 unternahm Kurt R. Grossmann im Auftrag der Jewish Agency for Palestine eine Informationsreise, um sich über den Stand der Wiedergutmachung bei Ämtern und über die öffentliche Meinung zu Fragen der Wiedergutmachung zu informieren. Seine Bilanz war erschreckend: Die Bearbeitung der Anträge erfolge im Schneckentempo. Bei den Behörden sei die Meinung verbreitet, etwa ein Drittel der Antragsteller seien Betrüger. Er rief dazu auf, über ausländische Medien Druck auf Deutschland auszuüben, Deutschland reagiere nur auf Druck aus dem Ausland.
Die Arbeit in den Wiedergutmachungsstellen war unbeliebt, qualifizierte Verwaltungsangestellte wechselten in die Privatindustrie, die Fluktuation war groß. Heimatvertriebene, die mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, füllten die Lücken und hatten nicht das geringste Verständnis für die Nöte und Traumata der Emigranten. Auch Kornitzer wurde die Übernahme einer Wiedergutmachungskammer angeboten, was er sich 1949 sehnlichst gewünscht hatte. Damals war er angeblich „befangen“. Jetzt lehnte er ab — aus Gewissensgründen; der Entscheidungsspielraum war viel zu gering. Zum Ausgleich für den Verlust seiner Stellung und seiner Dienstbezüge hatte er eine Entschädigung von 20.000 DM erhalten. Auf diese Entschädigung waren die bereits geleisteten Abschlagszahlungen in der Höhe von 11.500 DM angerechnet, die er bekommen hatte, als er in Lindau mittellos war. Es wurde ferner festgestellt, daß die Zeit zwischen dem 1. November 1933 und dem 31. Mai 1949 ruhegehaltfähig ist. Der Bescheid wurde ihm gegen eine Empfangsbestätigung ausgehändigt.
Kornitzer war erst in den Fünfzigern. Er hatte eine sichere Beamtenstelle. Aber die Kinder in England und ihre Reisen nach Deutschland kosteten auch viel Geld. Trotzdem sagte er sich: Das Beste ist es, die Ansprüche aus dem Bundesentschädigungsgesetz zurückzustellen, um Vertagung zu bitten, denn es war ihm unvorstellbar, daß dieses Kompromißgesetz so stehenblieb, es mußte verbessert werden. (Er mußte dann lange warten, ehe 1965 das Bundesentschädigungs-Schlußgesetz in Kraft trat. Wer hätte ahnen können, daß auch nach dem Schlußgesetz kein Ende abzusehen war?) Und da niemand wußte, wie weitgehend die Änderungen des Gesetzes sein würden, mußte man mit dem Spatz in der Hand vorliebnehmen und von der Taube auf dem Dach träumen. Und so war es dann auch: Das neue Gesetz lieferte Ämtern und Gerichten Vorwände über Vorwände, Anträge abzulehnen. Das Beste an dem neuen Gesetz war noch, daß es endlich in allen Ländern der Bundesrepublik eine einheitliche Regelung gab.
Es war nicht möglich, die Ansprüche aus dem Bundesentschädigungsgesetz selbst durchzufechten. (Kornitzer hatte das versucht, noch vom Bodensee aus, war aber nicht weit damit gediehen. Jetzt waren Akten von Lindau nach Berlin zu transferieren, Zuständigkeiten, Ämter und Gerichte wechselten.) Ein bei einem deutschen Gericht zugelassener Rechtsanwalt mußte beschäftigt werden, das galt auch für die Kuba-Emigranten, die in die USA weitergewandert waren, es galt auch für Boris Goldenberg, der in Kuba hatte bleiben wollen, und für deutschstämmige Juden in Israel. Daß polnischstämmige und litauische Juden Anträge stellten, war nicht vorgesehen; der Eiserne Vorhang war ein gern zitierter Vorwand. Es war möglich, mit Kommunisten über die Rückkehr der letzten Kriegsheimkehrer zu verhandeln, es war aber nicht gewollt, Opfer in den kommunistischen Ländern zu entschädigen. Auch die Zwangsarbeiter wurden grundsätzlich vergessen. Und Richard Kornitzer hatte bereits in einer Fachzeitschrift gelesen, daß Künstler, deren Werke als entartet gewertet worden waren, grundsätzlich von einer Entschädigung ausgeschlossen waren, es habe sich um keine Verfolgung, sondern um kulturpolitische Maßnahmen gehandelt, hieß es. Auch ehemalige Kommunisten wurden häufig von der Entschädigung ausgeschlossen. Ihre Haftstrafen in Zuchthäusern und Konzentrationslagern wurden umgedeutet in legale Strafen für kriminelle Handlungen. Haftentschädigung, Rückerstattung des geraubten Eigentums, soziale Sicherung nach den verlorenen Jahren waren ein bunter Flickenteppich.
Man muß in die Gesetzgebung hineinkriechen, um sich mit ihr und vor allem ihren Lücken gründlich vertraut zu machen, um die haarspalterischen Urteile zu analysieren. Der kenntnisreiche Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer muß zum ersten Mal in seinem Leben einen Rechtsanwalt beschäftigen, das heißt auch: seine Honorare bezahlen. Und das muß auch jemand, der krank und elend aus dem Konzentrationslager gekrochen ist und nicht mehr auf die Beine gekommen ist. Es war eine Taktik der Zermürbung. Kornitzer entschied sich für einen alteingesessenen Rechtsanwalt in Mainz, Wilhelm Westenberger, der, soweit er gehört hatte, einen untadeligen Ruf hatte. Für jeden Anspruch mußte ein gesonderter Akt angelegt werden: für die beruflichen Schäden, für die gesundheitlichen Schäden, für die materiellen Verluste. Nur der Verlust an Angehörigen, an Lebensfreude, Lebensgewißheit war nicht aufzulisten, zu beziffern. Mit Grundbüchern und Handelsregistern war leichter umzugehen als mit ideellen Werten wie der seelischen und körperlichen Gesundheit und ihrer Dokumentation. Leichter als mit Leben und Tod. Gewaltig lange Fragebögen waren zu beantworten. Sie werden gebeten, jeden Anspruch in einem besonderen Schriftstück zu behandeln, da getrennte Akten geführt werden. Für die Wiedergutmachung waren die Gerichte am letzten Wohnort vor der Emigration zuständig. Das Entschädigungsamt Berlin in der Potsdamer Str. 186 korrespondierte mit der Geschäftsstelle des Landgerichts Berlin, 146. Wiedergutmachungskammer; die Wiedergutmachungskammer korrespondierte mit dem Senator für Finanzen in Berlin, Sondervermögens- und Bauverwaltung, Fasanenstr. 87; und am Ende stand ein Urteil, meistens eines, das sich gegen den Antragsteller richtete, seine Ansprüche abwehrte.
Rückerstattungssache Kornitzer./. Deutsches Reich hießen solche Akten, sie ließen den Kläger schlaflos und bereiteten Kopfschmerzen untertags.
Beanspruchtes Vermögen:
A) Hausrat in der früheren Wohnung Cicerostr. 63
Claire hatte die Wohnung aufgeben müssen nach Richards Emigration. Als ihre eigene Emigration scheiterte, zog sie in eine kleinere Wohnung in die Nürnberger Straße.
B) Wertpapierdepot
C) Lebensversicherungen
D) Judenvermögensabgabe
E) Grundstück
zu A) mußte geantwortet werden: „Es sind noch Ermittlungen im Gange. Es wird um Fristverlängerung gebeten.“
zu B): „Die umfangreiche Korrespondenz mit der Deutschen Bank in Berlin hat noch nicht zu einer Klärung geführt, da die Unterlagen der Deutschen Bank teils vernichtet, teils im russischen Sektor von Berlin sind. Es wird gebeten, diese Sache bis auf Anruf ruhen zu lassen.“ Dann finden sich die Originalquittungen tatsächlich — Claire ist eine sorgsame Person und hat, was sie selbst in Berlin bei ihrer Evakuierung nicht aufheben konnte, ihrer Schwester Vera gegeben, die die Papiere ausgrub, nach und nach fand sich vieles —, und Kornitzer schreibt an die Deutsche Bank, Depositenkasse Y, Berlin W. 15: „Da die Originalquittungen erhalten sind und vorliegen, meine Frau und ich aber jahrelang schwer verfolgt wurden und ich fliehen mußte, müssen wir von diesen Quittungen ausgehen und Sie erneut bitten, uns die Aufträge — sei es auch des damaligen Oberfinanzpräsidenten, des Finanzamtes oder der Gestapo — sowie den Verbleib des Gegenwertes der Wertpapiere nachzuweisen. Dies gilt natürlich auch für den nach den Umständen kaum erkennbaren Fall einer Gutschrift zur Verfügung meiner Frau.“ Allein herauszufinden, daß die Depositenkasse Y für ihn zuständig ist, hat Kornitzer eine unendliche Kleinarbeit gekostet. „Warum bringt die Bank nicht die vollen Unterlagen? Daß diesseits der Nachweis erbracht werden soll, was sich zwischen der Bank und der Gestapo und dem NS-Fiskus abgespielt hat, ist doch wohl zu viel verlangt.“