Was aber feststand, waren ein paar Daten, Fakten: Das 1. Juristische Staatsexamen von Richard Kornitzer war vollbefriedigend. 1926 promovierte er zum Dr. jur., da ist er gerade mal 23 Jahre alt. Das 2. Juristische Staatsexamen legt er mit „gut“ ab. Das waren hervorragende Noten, ein schneller Student, ein Überflieger, entschlossen, seinen Weg zu gehen. Warum es Einser-Philosophen gibt und Einser-Volkswirte, aber die Noten der Juristen tiefer liegen, weiß kein Mensch zu sagen. Vielleicht um die jungen Juristen nicht zu verwöhnen, während der junge Philosoph weiß, daß auf ihn nicht die geringste Verwöhnung wartet, sondern die rauhe Gewißheit, daß niemand ihn braucht. Hervorragende Juristen werden gebraucht. Ich halte Herrn Dr. Kornitzer zur bevorzugten Beförderung und Anstellung für besonders geeignet, hatte ihm der Landgerichtsdirektor am 15. Januar 1932 in seiner Begutachtung bescheinigt und weiter geschrieben: „Herr Dr. Kornitzer verfügt über eine scharfe Auffassungsgabe, guten Tatsachensinn, geschultes logisches Denken, die Fähigkeit knapper Darstellung und die seltene Gabe, auch verwickelte Sachverhalte klar aufzufassen und prägnant darzustellen. Er hat gründliche Rechtskenntnisse und besonders gute juristische Schulung. Insbesondere hat er sich auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes ausgezeichnet eingearbeitet. Dementsprechend stehen seine Leistungen weit über dem Durchschnitt und sind durchweg gut gewesen. Bes. Hervorhebung bedürfen seine nach Aufbau, Durchdringung, Klarheit und Kürze gleich ausgezeichneten Urteile. Er hat pünktlich gearbeitet. Seine Führung war gut. Auch sein Gesundheitszustand scheint gut zu sein.“ Das war ein Zeugnis zum Hinter-den-Spiegel-Stecken, ein Zeugnis, das zu allen möglichen Hoffnungen berechtigte.
Aber die Hoffnungen waren getäuscht worden. Eine Benachrichtigung, die nur vier Zeilen hatte, ließ ihn im Boden versinken. Der Gerichtsassessor Dr. Richard Kornitzer in Berlin wird auf Grund des § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RgBl.I S.175) in den Ruhestand versetzt.
Berlin, den 20. Juli 1933.
Der Justizminister (Siegel des Preuss. Just. Min.)
in Vertretung gez. Dr. Freisler
Immer wieder hatte Kornitzer auf das Dokument gestarrt, jeden Satz, jedes Wort, jedes Zeichen hatte er genau studiert, als könnte er in ihm doch noch einen anderen Sinn finden als den offenkundigen der Erniedrigung, der Verstörung. Aus der Traum, aus der Traum, eine Richterlaufbahn war vernichtet. Und er warf sich auch vor, während er sich über seine neue aufregende Tätigkeit am Landgericht gebeugt hatte, sich nicht genügend um die Veränderung der politischen Verhältnisse gesorgt, gekümmert zu haben. Er würde das tun, sagte er sich damals, wenn er vom Referendar zum Assessor, vom Assessor zum Landgerichtsrat befördert worden wäre, also bald, also dann in einer gesicherten Position. Georg, sein kleiner Sohn, lernte laufen, hielt sich an allen möglichen Beinen, den Tischbeinen, den Stuhlbeinen, den väterlichen Beinen fest, wollte seinen kleinen Singsang-Wortschatz erproben, die Zweisilbigkeit, die Zweiwörterhaftigkeit seiner Welt, lauter schöne Luftblasen, die das Kind fliegen ließ, und Claire war sehr beschäftigt mit dem, was Kornitzer das „Universale“ nannte. Und er, das warf er sich übermäßig vor, hatte sich, wenn er das Landgericht hinter sich ließ, in den Luftraum geschmiegt, der zwischen der Tätigkeit der Frau und den Forderungen, die der kleine Junge an ihn stellte, blieb; nebenbei bemerkt, es waren nicht übermäßig viele. Ein Zuhören, ein Händchenhalten, ein Klötzchen-Aufheben, eine beruhigende väterliche Stimme und eine Hand auf einem Körperchen, das Bauchweh hatte. Alles bewegende Zeichen und Symptome, die ihn manche Nachricht in den Zeitungen überlesen oder nur schulterzuckend zur Kenntnis nehmen ließen. Bis es geschah — er hatte Urteile geschrieben und sich kein Urteil über die neue Regierung gebildet. Der Boden war ihm unter den Füßen weggezogen worden, er fürchtete, auch seine Frau, sein kleiner Sohn würden mit in den Abgrund, der sich vor ihm auftat, gerissen. Und es gab keinen Zeugen, keine Kontakte zu den früheren Kollegen, es gab ein großes, grenzenloses Schweigen, das ihn einhüllte in einer furchtbaren Bitternis. Erst jetzt begriff er, er war der einzige Jude unter den Kollegen am Landgericht gewesen, er hatte keine Solidarität, keinen Rat von niemandem zu erwarten. Und nicht einmal als ein richtiger Jude fühlte er sich, er war Jude von Hitlers Gnaden gewesen.
Kornitzer war in der milden Frühlingsluft angekommen, untergekrochen bei seiner Frau, auf einem Bauernhof, umgeben von Wiesen. Das neugeborene Kalb mit stöckerigen Beinen lief auf das Muttertier zu, blökte herrisch und kindisch zugleich. Ein Bauernhof, der keine Stallwärme bot, weder für seine Frau noch für ihn, den Zugezogenen, den huckepack Genommenen, er war zu städtisch, er sprach zu Hochdeutsch, das war störend. Es war ihm unmöglich, sich als Teil einer großen (kollektiven) Erzählung zu begreifen. Spätabends, wenn das Bauernhaus schlief, die Tiere malmten, benutzte er Claires Schreibmaschine, tacktacktack oder tacktack, tacktacktack, Pause, tack — und tippte unverdrossen; diesmal an den Herrn Kreispräsidenten. Der Kreispräsident war eine Art Brückenkopf, eine Gelenkstelle in der exotischen Situation zwischen den österreichischen Besatzungsregionen der Franzosen und dem Linksrheinischen und Baden und Württemberg, die gleichermaßen französisch besetzt und verwaltet waren. Der Kreispräsident war mit einem Ministerpräsidenten zu vergleichen, eingesetzt von der französischen Besatzung.
„Hierdurch“, schrieb Kornitzer, „bitte ich ergebenst, die zuständigen Stellen des Landkreises anweisen zu wollen, mir diejenigen Vergünstigungen zu gewähren, die allgemein den aus Übersee zurückgekehrten Flüchtlingen des Naziregimes gewährt worden sind.“ (Woher weiß er von Vergünstigungen? Mit wem steht er in Kontakt? Was liest er in der untätigen Zeit?) Und weiter schreibt er, als würden sich solche Fragen nicht auch die Behörden, die er anschreibt, stellen: „Ich habe vom Landratsamt, Betreuungsstelle für politisch Verfolgte, am 8. 6. d. J. folgende Mitteilung erhalten: Nach Prüfung Ihrer Unterlagen wurde festgestellt, daß Sie seit 1941 staatenlos sind. Die deutschen Betreuungsstellen für politisch Verfolgte betreuen jedoch nur deutsche Staatsangehörige. Für die Betreuung von Ausländern und Staatenlosen ist die IRO zuständig, Sie werden deshalb gebeten, sich an diese Stelle zu wenden.“ Kornitzer hatte gelesen, las zweimal, reichte Claire das Schreiben, dann begann er zu zittern, er las laut „jedoch nur deutsche Staatsangehörige“, las lauter „nur deutsche Staatsangehörige“, und warf das Schreiben zu Boden. Er tobte auch noch, als er es aus dem Gedächtnis zitierte, „nur deutsche Staatsangehörige“. Bitte, Richard, sagte Claire, beruhige dich doch, es wird sich alles klären. Klären? schrie er, was soll sich klären? Alles ist sonnenklar. Pst, machte sie, die Pfempfle-Kinder werden wach, wenn du so schreist. Irgendjemand muß ja mal wach werden, schrie er. Bitte, Richard, so kenne ich dich nicht, bitte, sei leis, flehte sie. Und dieses „so kenne ich dich nicht“ brachte ihn zur Raison, er wollte doch wiedererkannt werden und hatte seine Frau auch wiedererkannt und Angst gehabt, als er sie nicht gleich auf dem Bahnsteig sah, sie hätte sich so grundsätzlich verändert, daß er schamvoll an ihr vorbeigegangen wäre, oder sie hätte ihn nicht sehen wollen, erst nach einer Schrecksekunde, und sich dann freudig oder gespielt freudig umgewandt, um ihn filmisch wie in einer Großaufnahme zu erkennen. Nein, so war es nicht gewesen, und wäre es so gewesen, ein langer Schatten hätte sich über ihr Wiedersehen gebreitet, eine Verlegenheit. Doch die gab es nicht, glücklicherweise. So versuchte er sich wieder zu fassen, Claire hatte ihm auch eine Hand auf den Arm gelegt, mit dem er zu fuchteln begonnen hatte. Und dann erklärte er ihr: Die IRO hatte ihn schon seit der deutschen Kapitulation betreut, ja auch schon früher, als die Kapitulation zu erwarten war, danach waren zweieinhalb Jahre vergangen, die er in einem schmerzlichen Wartezustand verbracht hatte, zwischen Hoffen und Bangen und totaler Niedergeschlagenheit, er würde nie mehr seine Frau, seine Kinder finden, und nun mußte er sich ganz hinten einreihen, und seine Geschichte war in den Wind geschrieben. Anstellen und betteln wie ein Bürger aus einem fernen Schtetl (waren das überhaupt Bürger? er wußte es in der Erregung nicht so genau). Die Nazis hatten es überrannt und angezündet und die Bewohner wie Vieh zusammengetrieben, um aus ihnen ein letztes Quentchen Arbeitsfähigkeit herauszupressen, und wenn dieses nicht mehr zu erwarten war, sie zu vernichten. Er konnte sich naturgemäß die eigene Vernichtung nicht vorstellen. So hatte er gewaltige Anstrengungen gemacht, die eigene Auslöschung zu verhindern, die der Kinder zu verhindern, er hatte dafür die Vernichtung seiner familiären Situation auf dem Gewissen, so kam es ihm vor. Das war eine schwere Bürde, von der er sich kaum befreien konnte, solange die Kinder nicht wieder unter einem gemeinsamen Dach mit ihren Eltern lebten. Er mußte sich setzen, nachdem sein Anfall zu Ende war.