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Stinkt es in Ihrem Stadtteil auch so? fragt er einen seiner Beisitzer, den Assessor Nell. Der sieht ihn verständnislos an. Er kommt mit dem Bummelzug täglich aus dem Weinort Nackenheim, er ist bei einer Tante untergekrochen, weil er keine Wohnung gefunden hat. Da stinkt es nicht, nur wenn die Winzer Kupfervitriol verspritzen. Der ganze Ort liegt dann in einer giftigen Wolke, sagt der Beisitzer. Und natürlich im Herbst, wenn der Wein gekeltert wird. Aber das ist eben so.

Kornitzer ist dann lieber still, er weiß, daß er privilegiert ist mit dem Schindelhaus. Wohnungszwangswirtschaft ist das Machtwort, an dem die Wünsche zerschellen. Ja, Kornitzer hat es eigentlich gut getroffen, das Haus ist ein Panzer, ein Wiedergutmachungspanzer, er hält ihn fern von den Problemen anderer Bürger, er isoliert ihn, schützt ihn und erregt auch Neid. Ach, könnte man das Schindelhaus doch am Schornstein und an den oberen Fensterläden packen und irgendwo auf die Rheinhöhen stellen, heraus aus dem Industriemief, dem Essig- und Schuhwichsegestank, dem arbeitsamen Ameisengewimmel, in eine Einsamkeit, denkt er, schon denkunfähig vor Müdigkeit in einer unbestimmten Sehnsucht. Es ist eher ein nutzloses, aber nicht gegenstandsloses Seufzen, ein ungefährer Gedanke, der nicht vom Fleck kommt und sich wie ein Rohrkrepierer in den Boden bohrt. Eigentlich unwürdig für einen Landgerichtsdirektor, sagt er sich selbst. Aber seine Empfindlichkeit war mit den Jahren größer geworden, er war unleidlicher und unduldsamer. Er erforscht, was aus seinen früheren Kollegen im Landgericht Berlin geworden ist, er schreibt Briefe, telephoniert, aber er vermeidet, Rechtsanwalt Damm nach einem einzigen früheren Kollegen zu fragen. Damm hatte ihm formell für die Vermittlung eines Mandanten gedankt. Kornitzer hatte daraufhin nur knapp genickt. Er sehnt sich nach Ludwig Foerder, dem Rechtsanwalt aus Breslau, der ihm von den ersten Übergriffen auf jüdische Richter berichtet hatte. Er hätte hellhörig werden müssen, er hätte Entscheidungen treffen müssen. Nun weiß er nicht einmal, ob Foerder, den er als einen seiner Förderer erlebt hat, noch lebt oder wo er lebt. Das macht ihn traurig und mutlos. Er schreibt Briefe nach Kuba, er schreibt in die USA, er nimmt Kontakt mit Fritz Lamm auf, der in Stuttgart gelandet ist, er verausgabt sich im Schreiben.

An einem ruhigen Abend schreibt er einen Brief an das Justizministerium Mainz und gleichzeitig einen ähnlichen an das Entschädigungsamt Berlin Wilmersdorf, das nach seinem letzten Wohnort vor der Emigration für ihn zuständig ist: „Ich stelle nunmehr den Antrag, mir die Rechtsstellung eines Beamten der Besoldungsgruppe B 8 zu gewähren“, und er führt aus: „Hinsichtlich meiner besonderen Fähigkeiten auf dem Gebiete des kubanischen Rechts in Verbindung mit der spanischen Sprache ist meine Qualifikation nach meinen Feststellungen einzigartig.“ Und er begründet seinen Antrag damit, daß eine Wiedergutmachungsentscheidung über seine Rechtsstellung noch nicht ergangen sei. Eine solche Entscheidung sei dringlich, da inzwischen bei fast allen Behörden des Bundes und der Länder — entgegen dem Paragraphen 7 zum Grundgesetzartikel 131 — aktiv tätig gewesene Nationalsozialisten in die früheren Stellungen eingesetzt oder sogar weiterbefördert worden seien. Die wenigen Fachleute, die der Berliner Patentkammer angehört hätten, seien inzwischen — soweit sie nicht ausgewandert oder verstorben sind — in hohe und höchste Stellungen berufen worden wie beispielsweise der derzeitige Senatspräsident beim Deutschen Patentamt. Seine, Kornitzers, Berufung zum Landgerichtsdirektor im Jahre 1949 sei nicht im Wege der Wiedergutmachung vorgenommen worden. Im Geschäftsbereich des Bundesjustizministeriums hätten inzwischen zahlreiche Richter schon vor Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres Stellungen erlangt, die über der Besoldungsgruppe A 2b liegen. Unter diesen Umständen könne er als politisch Verfolgter auf Grund seiner in den dienstlichen Beurteilungen anerkannten Fähigkeiten, Kenntnissen und Leistungen, besonders auf dem Spezialgebiet des gewerblichen Rechtsschutzes, eine weitere Beförderung schon deshalb beanspruchen, weil er, wie bereits festgesetzt worden sei, ohne politische Verfolgung bereits zum 1. August 1936 die Stellung eines Landgerichtsdirektors erlangt haben würde.

Das lesen die Empfänger des Schreibens im Justizministerium nicht gern. Er hat das nicht mit Westenberger abgesprochen. Es geht ja nicht um eine Beförderung, es geht um eine ethische Forderung. Er kann nicht einschätzen, welche Wirkung ein solcher Brief haben wird, er will sein Recht. Sein Antrag wird als unzulässig abgewiesen. Seine Wiedergutmachung sei durch die ihm zustehende Rechtsstellung und Besoldung bereits geleistet. Der Antragsteller selbst hatte vor Erlaß dieses Wiedergutmachungsbescheids niemals erkennen lassen, daß er im Wege der Wiedergutmachung eine über der Besoldungsgruppe A 2b liegende Amtsstelle beanspruche. Er habe vielmehr sein Einverständnis mit der vorgesehenen Regelung erklärt. Der neue Antrag könne nicht als Wiederholung oder Konkretisierung des früheren Wiedergutmachungsbegehrens angesehen werden. Und auf dieses könne sich der Antragsteller nicht berufen. Ja, es ist ein Begehren — mit allen erotischen und personalen Konnotationen, es wird ins Subjekt zurückverwiesen, und der Begehrende soll mit sich selbst ausmachen, was daraus wird. Getilgt wird die sittliche Aufgabe, die die Nachkriegsgesellschaft den Opfern des Faschismus gegenüber hat. Der Antragsteller soll gefälligst nicht die öffentliche Hand damit behelligen, so sagen die Richter, die schon im Nationalsozialismus Recht gesprochen haben, und wähnen sich vollkommen im Recht gegenüber dem Antragsteller. Auch mit dem Sinn der für den öffentlichen Dienst geltenden Wiedergutmachungsforderungen wäre es nicht vereinbar, wenn ein Beamter, dessen Wiedergutmachungsansprüche im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen bereits erfüllt sind, nach Ablauf gewisser Zeiträume — unter Hinweis auf den beruflichen Aufstieg anderer Beamter — immer wieder Beförderungsansprüche mit der Begründung geltend machen könnte, daß er ohne die nationalsozialistischen Schädigungsmaßnahmen inzwischen eine höhere Amtsstelle erreicht haben würde.

Und dann in einer ruhigen Arbeitspause sieht Kornitzer sich selbst über die Schulter, während er nach dem Telephonbuch greift, ja, er findet den Namen von Professor Heinrich Kranz darin, notiert sich die Adresse, und auf seinem nächsten Weg zum Landgericht fährt er zur Südstadt, läßt das Auto in einer Seitenstraße stehen, steigt aus, betrachtet das stehengebliebene würdige Haus in der Nähe des Rheinufers, in der Nähe der neu gebauten Universitätskliniken. Und er fragt sich gleichzeitig: Was mache ich hier? Studiere ich ein Haus oder eine Wohnsituation, wie sie einem Psychiatrie-Professor, der seine Karriere von 1938 an gradlinig weiterbefördert hat, offensichtlich zusteht? Oder studiere ich meine eigene Unruhe und Unzufriedenheit? Und etwas in ihm will nicht entdeckt werden bei diesem Anstaunen eines Hauses mit roten Sandsteinlaibungen, den zugezogenen Gardinen, dem milden Lampenlicht, und ein anderer Teil von ihm sagt sich: Ich führe eine Ermittlung in eigener Sache. Er spürt sich selbst nicht wirklich, und indem dieser Fall eintritt, an den er nicht gedacht hat, spürt er den Wind, der vom Fluß her weht: Ja, er sieht auch Claires Traurigkeit, an der er einen Anteil hat, aber er kann den Anteil nicht verringern, das beschämt ihn wiederum, und er sieht das Dilemma, „spürt“ es auch, aber wie, wie es mildern? Es ist einfach da, eine Last, ein Betonklotz vor ihren Füßen, zwischen ihnen, durch die Wiederaufbaumaßnahmen noch verfestigt. Es ist unüberwindlich, und es überhaupt nur im Blickwinkel zu behalten, macht es von Tag zu Tag größer, und es macht schuldbewußt. Die Schuld, von der nicht ganz klar ist, worauf sie beruht (später hätte man sie Überlebensschuld genannt), breitet sich aus wie ein Fettfleck.