Manchmal trat er spätabends in die Tür von Georges oder Selmas Zimmer, stellte sich den Sohn, die Tochter an einem Tischlein am Fenster vor, für ihr Studium arbeitend, ihm den Rücken zukehrend, mit rauchendem Kopf, nur beiläufig über die Schulter sehend. Ah, du bist es, Vater, und dann wieder auf die Arbeit konzentriert, die Kornitzer nicht wirklich begreift (aber das tut nichts zur Sache), und er träte dann leise, leise zurück, befriedigt. Sein Sohn, seine Tochter unter seinem Dach: eine Art von Entwicklungsroman, etwas Außerordentliches, das keinen Namen hatte, aber doch eine Richtung. Er sah vergangene Handgriffe, hörte ferne Schritte. Und dann fand er wieder in die Wirklichkeit zurück, das Tagträumen war ein Zeitaufschub, er stieg die Treppe hinunter und setzte sich Claire gegenüber in den Sessel, als wäre nichts geschehen.
Ja, Kornitzer geht zu wenig, bewegt die Akten, aber nicht seinen Körper, er wird stark. Claire serviert häufig Forelle Müllerin, Kornitzer träufelt sich viel flüssige Butter über den mageren Fisch, sonst schmeckt er ihm nicht. In Havanna hatte es überhaupt keine Butter und kaum andere Milchprodukte gegeben. Und Claire möchte sich mit ihm nicht über den Butterund Sahnekonsum auseinandersetzen. In seiner Personalakte finden sich in dieser Zeit die Einträge: Dr. Kornitzer fühlt sich in seiner Eigenschaft als rassisch Verfolgter zurückgesetzt; zwischen ihm und seinen Kollegen haben zeitweise Spannungen bestanden, bei denen vielleicht persönliche Empfindlichkeit eine Rolle spielt. Und: Der Gesundheitszustand des Richters, der etwas massig wirkt, war in letzter Zeit mehrfach gestört. Hatte das Justizministerium seinem Vorgesetzten, dem Landgerichtspräsidenten, seinen Antrag weitergereicht und um Stellungnahme gebeten? Vermutlich.
Gegen diese Formulierung protestiert Kornitzer, er verlangt Tilgung, die nicht gewährt wird. So bleibt die Formulierung für spätere Leser seiner Personalakte sichtbar, überaus gut sichtbar, sie übt eine Signalwirkung aus. Warum steht etwas über seinen Leibesumfang in seiner Akte? Wen geht das etwas an? Sind solche Eintragungen in einer Personalakte überhaupt erlaubt? Vermutlich nicht. Nein, gewiß nicht. Er erreicht nicht nur keine Tilgung, ihn erreicht ein Schreiben des Justizministeriums. Ministerialrat Dr. Schönrich erklärt Kornitzer, warum seiner Eingabe nicht stattgegeben wird, und es klingt wie blanker Hohn: Die dienstliche Beurteilung beschränkt sich auf die Feststellung, daß zeitweise Spannungen bestanden haben, und läßt die Frage offen, wer diese Spannungen verursacht und auf welcher Seite „vielleicht“ eine „persönliche Empfindlichkeit“ mitgespielt hat. Aus dieser Feststellung können deshalb keine Ihnen nachteiligen Schlußfolgerungen gezogen werden. Das gleiche gilt für den Hinweis auf Ihren Gesundheitszustand. Ebenso wenig läßt sich bestreiten, daß Sie in Ihrer äußeren Erscheinung „etwas massig“ wirken. Diese sachlich richtigen Feststellungen können Ihnen nicht zum Nachteil gereichen, da sie Tatsachen entsprechen, die von Ihnen nicht zu vertreten sind. Hiervon abgesehen sind Bemerkungen über den Gesundheitszustand und über die äußere Erscheinung eines Beamten als „dienstliche Urteile über seine Person“ anzusehen, so daß schon aus diesem Grunde eine vorherige Anhörung des Beamten nicht erforderlich ist. (§ 42 Abs. 1. BG).
Er verlangt jetzt häufiger Einsicht in seine Personalakte, er ist mißtrauisch, die doppelte Benutzung des Begriffs „nachteilig“ und „Nachteil“ ist verräterisch, er fühlt sich gedemütigt. Im Herbst macht er eine Fastenkur in der Buchinger Klinik am Bodensee, kaut langsam an trockenen Brötchen, die in feine Scheiben geschnitten worden und aufs Liebevollste mit Radieschenscheiben und Schnittlauch garniert sind. Er schlürft heiße Gemüsebrühen. Er sieht seine Mitfastenden, seine Mitgefangenen an, wie er sich heimlich sagt, man flaniert am Ufer des Bodensees, in Überlingen, und er denkt an Lindau, als wäre die erste Station nach seiner Emigration unendlich weit in einen Untergrund, in eine schöne, irritierende Fremdheit, die er kaum verstanden hat, gesunken. Er wird gemessen und gewogen, seine Herzprobleme werden ernst genommen und gleichzeitig in der milden Luft des Bodensees zerstäubt. Es sind dann nicht mehr seine Herzprobleme, sondern es sind Probleme, die er sich gemacht hat. Ja, vielleicht hat er sich selbst ganz und gar gemacht, seine Zerknirschung, seine Traurigkeit, seinen Zorn, man trinkt ein Kännchen blonden Tee aus gemischten Kräutern, man denkt nach, versenkt sich, und überall, wo man sich versenkt, lenkt, findet sich ein Kern des Wahren, Schönen, Guten, und wenn man in sich selbst hineingehorcht hat wie in eine Höhle, in der vielleicht ein Schatz verborgen ist, schmeckt auch das trockene Brötchen viel besser. Es ist eine Gabe. Es ist ein Mittel zur Erkenntnis, ein Mittel zur Strukturierung der Genußfähigkeit, und wo wären wir, wenn eine Erkenntnis, und sei sie teuer erkauft an einem schönen Ort, an dem gefastet wird und das Darben mit Blumen bekränzt wird, sich nicht durchsetzte. Ja, Kornitzer, fastend, schweigend, Wasser und hellgelben Tee trinkend, soll zu sich kommen und sein Leben in die Hand nehmen. Das tun auch die Unternehmer, die Studiendirektoren, auch der Frankfurter Verleger, die mit ihm am Frühstückstisch an ihren trockenen Brötchen kauen. Aber was ihm aus der Hand geschlagen worden ist, soll keine Rolle spielen. Er sei es, der seinen Körper regiere, und sein wachsendes Gesundheitsbewußtsein regiere ihn, sagt man Kornitzer, jedenfalls sagt das eine sympathische junge Frau, die Diätassistentin, die für ihn verantwortlich ist, und sie strafft die Zügel. Die Pferde, die Pferde, sie dampfen. Daß er sie verloren hat, daß sie Schindmähren geworden sind, nun ja, nun ja, das soll er bitte nicht so tragisch nehmen. Leberwickel werden ihm empfohlen, junge Damen, die Krankenschwestern genannt werden, aber doch eher eine Art von milden Hostessen sind, legen sie an. Ob die Maßnahmen wohltuend sind, kann Kornitzer nicht wirklich sagen. Wohltuend ist, auf das Haar der Helferinnen zu schauen und die Hände zu disziplinieren, damit sie nicht in das immer frisch gewaschene, in feinen Wellen auf die Schulter fallende Haar greifen, Haar wie Seide.
Die Kur ist eine Kur der Selbstfindung, bei der er unterhalb der schmelzenden Fettschicht ein paar Empfindungen wiederentdeckt, die er verloren geglaubt hatte: Neugier, Schaulust. Er schwimmt auch einige Male im See, doch dann ist es plötzlich zu kalt für diese Ausflüge, also wieder Leberwickel, blonde Tees, die nach Wald- und Wiesenkräutern duften, was wirklich darin ist, erfährt er nicht, es ist eine Hausmischung.
Während er am See spazierengeht und sich manchmal eine Buttercremetorte in der Theke eines Cafés vorstellt, an der er mannhaft vorübergeht, versenkt sich Claire in das Lesen. Sie verbringt eine Zeitlang mit Julien Sorel, diesem kleinen, schwächlichen jugendlichen Helden, dem sein Autor eine leidenschaftliche Vorstellungskraft andichtet. In der Kunst, die Axt zu handhaben (der Vater Sorel hat ein Sägewerk), ist er seinen Brüdern und seinem Vater unterlegen. Claire kennt eine solche Unterlegenheit nicht, aber sie rührt sie, rührt sie, weil sie aus einer vergangenen Zeit stammt und gleichzeitig so gegenwärtig ist. Julien bereitet sich auf den Priesterstand vor, aber in Wirklichkeit ist er ein Aufrührer, er rührt sich selbst auf, und sein Autor begleitet ihn in einer nüchternen, schlanken Sprache. Und dann erobert dieser Junge die Welt, zuerst eine Provinzdame, dann die Tochter eines Ministers, er ist willensstark, ein Napoleon aus dem Sägewerk, der sich durchbeißt. Aber die Welt, die er erobert hat, entgleitet ihm wieder, seine schöne Provinzliebe attestiert ihm, nur auf Geld und Macht aus zu sein und Frauen nur zu seinen Zwecken auszubeuten. Claire versteht, wie Julien darüber in Zorn gerät (der Autor läßt sie es verstehen). Sie sieht seine Attraktivität förmlich, riecht sie zwischen den Seiten des Buches, und sie erfaßt den kalten Ehrgeiz, mit dem Julien bekundet: Die Hochmütige liegt mir zu Füßen!; der Emporkömmling schießt auf seine ehemalige Geliebte, verletzt sie nur leicht, aber er büßt dafür: Meine Herren, ich habe nicht die Ehre, Ihrer Gesellschaftsklasse anzugehören. Sie sehen in mir einen Bauern, der sich gegen sein niedriges Geschick aufgelehnt hat. Claire lebt mit dem Glücksräuber, Glücksritter, mit dem Wie-gewonnen-so-zerronnen, sie hat eine so starke Empfindung im Kino noch nicht erlebt, den schrecklichen Glanz der Sprache, und es ist gut, daß sie allein ist in dem Schindelhaus, allein mit dieser Wucht.