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Und dann liest sie den Roman eines Italieners, dessen Namen sie noch nie gehört hat, liest, daß ein Mann eine Frau heiratet, die er nicht wollte, und nicht die, die er begehrte, und dann stellt er fest, daß er diese nun doch liebt, etwas war schiefgegangen. Und dann schreibt er diese sonderbare Geschichte auf, navigiert darin mit einer ironischen Distanz. Sein Psychoanalytiker will sie lesen, selbst hat er nichts davon verstanden, aber aufgeschrieben ergibt sie etwas, das jenseits dieser Geschichte ist: Abgeklärtheit. Einerseits möchte er nur eine letzte Zigarette rauchen, es glücken ihm auch noch Geschäfte, und sein Analytiker sagt, er sei geheilt, eine schöne Seifenblase, der man nachsieht, und so könnte man auch dem eigenen Leben verfallen, denkt Claire und wird ganz sanft, und spätabends schlägt sie noch einmal die Stelle auf, an der Zeno, der Held, sagt: Es war eine mondlose und sternhelle Nacht, eine jener Nächte, die besänftigen und beruhigen, weil man mit Leichtigkeit in unendliche Fernen sehen kann. Genau das hatte sie versäumt, sie hatte die unendlichen Fernen aus dem Gesichtskreis verloren, hatte auf Grundstücke gestarrt, auf denen man ein Kino errichten konnte, hatte von roten Vorhängen geträumt, von Schlangen an der Kinokasse, und plötzlich dachte sie, wie es wäre, wenn jene französische Dame aus dem einen Roman den Helden aus dem italienischen Roman, den Schwächling und Träumer, aufwecken würde, wenn ihr Ehrgeiz in ihm pulste. Ob er wirklich krank war, ist nicht zu erfahren, er ist in einer Welt angesiedelt, in der er nicht einmal scheitert, das ist schon etwas.

Gleichzeitigkeiten, Gleichwertigkeiten. Sie sieht sich selbst auf dem Sofa liegen mit ihren geschwollenen Beinen, matt durch ihre schlechte Nierenfunktion, der Rock ist hochgerutscht, ihre Hausschuhe hat sie abgestreift. Sie sieht sich einen Augenblick lang wie eine Romanfigur, aber es fehlt eine Sprache, es fehlt eine Hand, die sie vom Sofa pflückt und in eine Welt hinausschickt, die staunenswert ist und nicht abweisend. Und ein wenig später fühlt sie sich ermutigt, eine Neuerscheinung zu kaufen, nachdem sie eine Rezension dazu gelesen hat. Das Buch war schon einmal 1928 unter dem Titel „Eine Frau von fünfzig Jahren“ erschienen, aber offenbar wollte niemand das Buch einer Engländerin mit einem solchen Titel lesen. (Auch Claire hätte als Mitzwanzigerin nicht im Traume daran gedacht.) Nun war sie mehr als doppelt so alt, nun war der Roman wieder erschienen mit dem Namen der Heldin, Mrs. Dalloway, als Titel. Auf allem lag der wunderbare Glanz des Unerwarteten, flüchtig war alles, was an dem einzigen Tag geschieht, den der Roman ausleuchtet: der Kauf der Blumen für die abendliche Party, der Schlag des Big Ben, der Ärger über das Mittagessen, das ihr Mann absagt, das unerwartete Treffen mit einem Jugendfreund, Hutläden, Kleiderläden, Läden mit Taschen in den Schaufenstern, auch die Nachricht vom Selbstmord eines jungen Mannes, es war etwas Gelassenes in ihrem Benehmen, befindet der Freund über die Frau im Mittelpunkt. Alles ist gleichwertig, strömt und verströmt, die Perspektiven lösen sich auf. Es schwindelt Claire ein wenig bei der Lektüre, sie ist bei sich und gleichzeitig weit weg in London, wie sie kürzlich noch in Triest war und davor in der französischen Provinz, und sie ist in Mainz-Mombach, in ihrem Wohnzimmer. Und sie stellt sich ihren Mann vor am Bodensee, man müßte ihn beschreiben, wie er von weither kommt, zu ihr gekommen ist, aber dann weiß sie nicht weiter und klappt das Buch zu. Morgen wird sie wieder lesen.

Kornitzer kommt zurück, er ist schlanker geworden, aber es geht ihm nicht eigentlich gut. Der Abstand zwischen dem Landgericht und dem Bodensee hat ihm gut getan. Er sucht seinen Hausarzt auf, der untersucht ihn und schreibt ein Attest: Herr Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer hat im Sanatorium Buchinger in Überlingen eine anstrengende vierwöchige Fastenkur zur Entschlackung mitgemacht. Um einen vollen Enderfolg zu erzielen, ist noch ein vierwöchiger Urlaub aus ärztlichen Gründen dringend erforderlich. Herr Dr. Kornitzer ist alsdann wieder voll dienstfähig. Gab es Unmut, ein Augenbrauenhochziehen, als er das Attest vorlegte? Welcher Prozeß mußte ausgesetzt werden wegen seiner Abwesenheit? Einen Tag später schreibt der Hausarzt eine zweite Mitteilung: Im Anschluß an mein Attest bescheinige ich, daß Herr LG. Dir. Dr. Kornitzer infolge der anstrengenden Kur und Aufregungen für weitere vier Wochen dienstunfähig ist. Eine verschärfte Gangart, eine heftige Reaktion. Nein, es geht Kornitzer nicht gut.

Die Tat

Ja, Kornitzer hatte es sich genau überlegt. Er war kein Spieler, auch kein Utopist. Die Würde des Richteramtes und der Eid, den er bei seiner Ernennung geschworen hatte, Gehorsam der Verfassung, den Gesetzen und meinen Vorgesetzten und die Treue meinem Volk, Achtung gegenüber dem Willen der Volksvertretung, all das band ihn. Aber auch das Hervortreten des Eigentümlichen sah er, sah es klar vor sich, ohne es benennen zu können, und er sah auch, was zu tun sei. Es war keine Tat im Sinne einer Heldentat, es war ziemlich leicht, dachte er. (Als ließe er einen Luftballon im Sitzungssaal schweben, dem alle Anwesenden träumerisch nachblickten, einen Luftballon mit schönen Wertvorstellungen, die an Paragraphen wie Fundkärtchen geknüpft waren und schon irgendwo landen sollten. Oder einschlagen wie Meteoriten.) Aber er wollte vorausschauend handeln, und das beschwingte ihn auch. Es war der erste Tag der neuen Sitzungsperiode nach den Gerichtsferien, ein blauer Morgen im September 1956, sehr früh noch, schon kühl, erste Herbstblätter nach dem heißen Sommer im Rinnstein, sich bläulich färbende Holunderbeeren in den Büschen am Straßengraben. Kornitzer hatte schon von zu Hause aus ins Gericht telephoniert und einige Anordnungen getroffen, er winkte seiner Frau an einem Fenster im ersten Stock zu, Claire winkte mit einem übermäßig fuchtelnden Arm zurück, viel Aufwand für einen ganz normalen Aufbruch, als er das Haus verließ. Ja, er fuhr mit dem noch ziemlich neuen Auto hinunter in die Innenstadt, parkte den Wagen in der Nähe des Flusses, und als er im Landgericht ankam, nahm er die Stufen der Treppe, ohne zu zögern, auch ohne Anstrengung, die Füße paßten sich an, die Knie, der ganze Bewegungsapparat, er beherrschte den Weg, und er beherrschte sich. Ins Landgericht zu gehen, war ein Automatismus geworden. Er begab sich in das Beratungszimmer, einen schmucklosen Raum, dessen Fenster hinüber zum Untersuchungsgefängnis wiesen. Dort an den Zellenfenstern tauchten häufig die Köpfe der Gefangenen auf, diese Demonstration wurde nicht gerne gesehen, weder im Gericht noch im Gefängnis; andererseits konnte man einem in Untersuchungshaft geratenen Menschen den sehnsüchtigen Blick hinaus aus dem Fenster nicht verbieten. Draußen und drinnen vermischten sich in diesem Blick. Es war ein symbolisches Aufreißen der Fenster, das mit einem einzigen Blick eingefangen, umfangen wurde. Im Beratungszimmer saßen einige Referendare und Assessoren, lasen Zeitung, schwatzten über ihre Ferien, jemand hatte die Ellenbogen auf den Tisch gelegt, breitete sich aus wie eine Lache. Gardasee, hörte Kornitzer zweimal, Gardasee, und in den Augen des Referendars war ein Glitzern.