Als Kornitzer die Tür des Sitzungssaals öffnete und den Raum betrat, war er ganz ruhig. Was sollte er erwarten, was sollte er fürchten, er hatte schon viel fürchten gelernt, aber er hatte sich nicht einschüchtern lassen. Er sagte sich auch: Ich bin ganz ruhig. (War das eine Beschwichtigung?) Neben ihm die beiden Beisitzer im Verfahren: auf der einen Seite der frisch gebackene Gerichtsassessor Nell, mit Eifer ging er voraus in den Sitzungssaal, ein schlaksiger Mensch, der mit seinen langen Armen innig einen Aktenordner umschlang, die Robe etwas speckig, wie vererbt, mürbe; auf der anderen Seite Landgerichtsrat Hartmann, der etwas zerzaust wirkte, auch zerstreut, als wäre er noch nicht wirklich angekommen nach den Gerichtsferien, dabei war er in den Verfahren klug und konzentriert bei der Sache. Der Vorsitzende in diesem Verfahren, Dr. Richard Kornitzer, spürt die Nähe links und rechts, aber er will sie nicht spüren, er will für sich sein, die Beisitzer stören ihn nicht, er kann sie sofort wieder vergessen, doch was er tut, heißt: Öffentlichkeit herstellen. Im Saal, den er schnell überblickte, saß auf seinen Wunsch hin Landgerichtsdirektor Zeh ohne Robe wie ein Privatmann. (Vertraute er ihm?) Kornitzer hatte ihn am frühen Morgen angerufen und gebeten, für kurze Zeit in den Sitzungssaal zu kommen, er würde schon verstehen, warum, und Zeh war dieser Bitte, ohne Fragen zu stellen, gefolgt, ebenso wie einige Rechtsanwälte, die er von verschiedenen Verfahren her kannte. Kornitzer sah auch einen Journalisten einer Nachrichtenagentur, er kannte ihn und nickte ihm zu.
Es geht nicht darum, Dienstwege, Wanderwege von Akten zu beurteilen, Anträge, Abweisungen von Anträgen, Vertagungen, Roben, Sicherheiten, die durch Unsicherheiten gekreuzt worden sind, freizulegen, Kammern zu öffnen, Strafkammern und Zivilkammern, die Herzenskammern. Es geht um sehr viel, Kornitzer weiß es, deshalb handelt er. Und es gibt keine Wahrnehmung über die Laune, die Empfindlichkeit, den Gemütszustand, die Robe des Landgerichtsdirektors, nichts über seine Mimik oder seine Sprechlage, etwas gepreßt, aber fest, und es gibt die Logik des Verfahrens. Es gibt auch eine Logik, seinen Worten aufmerksam zuzuhören (ja, sie zu interpretieren!) und sie später zu protokollieren, als wären sie frisch, eben erst gefallen (wundersamerweise Schnee im frühen Herbst), und als warteten sie darauf, dokumentiert, bekräftigt oder ins Unrecht gesetzt zu werden oder in ihr glanzvolles Recht. Das ist ein schwieriger Akt.
Kornitzer hatte sich gut vorbereitet, und er hatte für Aufmerksamkeit gesorgt. Er wolle vor der Sitzung eine persönliche Erklärung abgeben, und diese brauche eine gewisse Öffentlichkeit, hatte er seinem Kollegen, Landgerichtsdirektor Zeh, gesagt, und der war darauf eingegangen. Kornitzer verlas dann den Artikel 3 des Grundgesetzes. Den zweiten Absatz, den von der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, der für ihn heute nicht zur Debatte stand, ließ er aus. Und er zitierte: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Kornitzer machte eine kleine Pause, blätterte im Grundgesetz und schob dann den Artikel 97 des Grundgesetzes nach: Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.
In alten Büchern liest man an bestimmten Stellen Sätze wie: Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Aber im Sitzungssaal 507 war keine Stecknadel vorhanden, deren Fallgeräusch man hätte vernehmen können, der Journalist mit dem sprechenden Namen Kummer schrieb eifrig kratzend in seinen Block und sah nicht auf, draußen ratterte eine Straßenbahn, eine Betonmischmaschine röhrte auf einer nahen Baustelle. Kornitzer klappte die Broschüre des Grundgesetzes zu und sagte, er werde auf einer Pressekonferenz nähere Erklärungen abgeben. Dann begann er die Verhandlung, es war ein komplizierter, langwieriger Prozeß zwischen der Stadt und einem Industriewerk, über den der anwesende Journalist schon mehrfach berichtet hatte, aber jetzt verließ er den Raum. (Schrieb er über den Vorfall, die Tat, daß ein Richter öffentlich das Grundgesetz in Erinnerung brachte, nachdem es sieben Jahre in Kraft war? Man würde es am nächsten Tag wissen.)
Landgerichtsdirektor Zeh erhob sich auch, nickte dem Vorsitzenden Richter und den beiden Beisitzern zu, sah mahnend auf die Uhr, schon viel zu viel seiner kostbaren Zeit am ersten Tage der neuen Sitzungsperiode war beansprucht worden, und er verließ den Sitzungssaal. Sein Gehen sah aus wie ein verlegenes, verfrühtes „Prost Mahlzeit“. Er hatte selbst einen Prozeßtermin. Für kurze Zeit hielt er sich noch im Beratungszimmer auf. Sprach er mit den dort Anwesenden über den Vorfall? Das ist nicht bekannt. Telephonierte er mit dem Landgerichtspräsidenten? Setzte der sich sogleich mit dem Oberlandesgericht Koblenz in Verbindung? Auch das ist nicht bekannt, aber stark zu vermuten, denn die Ereignisse überschlugen sich.
Zwischen 11 und 12 Uhr wurde der Landgerichtsdirektor Brink vom Oberlandesgerichtsrat Walther beauftragt, die Herren Hartmann und Nell zu dienstlichen Äußerungen über die Vorfälle in der Sitzung der 1. Zivilkammer zu veranlassen, die bis spätestens um 16 Uhr im Präsidentenzimmer des Landgerichtes vorliegen sollten. Und er wurde weiterhin beauftragt, Kornitzer auszurichten, daß dieser sich um 17 Uhr im Präsidentenzimmer des Landgerichts einfinden solle, also die Zeugen zuerst und dann derjenige, dessen Tat sie bezeugen sollten. Brink verfaßte darüber eine dienstliche Äußerung, in der er schrieb, er habe Kornitzer gegen 12 Uhr in seinem Dienstzimmer angetroffen. Dieser sei jedoch offensichtlich in einer Beratung mit seinen Kammermitgliedern gewesen und habe davon abgesehen, sie zu bitten, für die Dauer der Unterredung mit ihm das Zimmer zu verlassen. Deshalb habe die Unterredung vor der geschlossenen Tür des Dienstzimmers stattgefunden. Landgerichtsdirektor Brink richtete Landgerichtsdirektor Kornitzer aus, daß Herr Oberlandesgerichtsrat Walther vom Oberlandesgericht Koblenz angerufen habe und ihn im Auftrag des Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten bitte, sich um 17 Uhr im Präsidentenzimmer einzufinden. Brink schrieb weiter, er habe angenommen, daß der Anruf im Auftrag des Oberlandesgerichtspräsidenten erfolgt sei. Zu welchem Zweck Kornitzer sich einfinden solle, sei nicht erörtert worden, vielleicht weil sie beide im Flur vor der Tür des Dienstzimmers standen. Kornitzer habe drei Gründe vorgetragen, warum er der Bitte (Anordnung?) nicht Folge leisten könne. Erstens fühle er sich gesundheitlich nicht dazu in der Lage, zweitens wolle er zunächst seinen Rechtsanwalt sprechen, drittens könnten bei der telephonischen Übermittlung Mißverständnisse möglich sein, so daß er auf eine schriftliche Mitteilung des Auftrags Wert legen müsse. Im Anschluß danach bemerkte Kornitzer, schrieb Brink, daß es sich wohl um die Vorgänge in der Sitzung am Morgen handeln müsse, die den Auftrag ausgelöst hätten. Brink bestätigte das und wies darauf hin, daß auch die Herren Landgerichtsrat Hartmann und Gerichtsassessor Nell zu einer dienstlichen Äußerung veranlaßt werden sollten. Nunmehr, schrieb Brink weiter, erhob Dr. Kornitzer plötzliche Einwände dagegen, daß ihm der Auftrag des Oberlandesgerichtspräsidenten durch mich übermittelt würde. Er meinte, daß ein dienstjüngerer Landgerichtsdirektor ihm einen derartigen Auftrag nicht übermitteln könne, sondern in einem solchen Falle, wenn dienstältere Kollegen nicht zur Verfügung stünden, der Oberlandesgerichtspräsident ihn unmittelbar beauftragen müsse. Er lehnte nun kategorisch die Entgegennahme jeder Erklärung meinerseits ab und wollte damit auch den bereits übermittelten Auftrag als ungehört (unerhört?) hinstellen. Noch während ich feststellte, daß ich meinem Auftrage bereits nachgekommen sei, ging er in sein Dienstzimmer zurück und ließ die Türe, ohne daß ich jedoch sagen könnte, daß dies absichtlich geschehen sei, sehr vernehmlich ins Schloß fallen. Die Unterredung war in wenigen Minuten beendet und verlief ruhig — bis auf den Vorfall am Schluß.