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Landgerichtsrat Hartmann schrieb gleichzeitig auf dem Dienstweg an den Landgerichtspräsidenten über die persönliche Erklärung des Landgerichtsdirektors Dr. Kornitzer und auch weiter: Ich habe offen gestanden den Sinn dieser Erklärung nicht begriffen und war deswegen überrascht. Zwar hatte ich vor der Sitzung eine vage Andeutung von einer bevorstehenden Erklärung erhalten. Ich wußte auch, weswegen ein Vertreter der Presse und Herr Landgerichtsdirektor Zeh anwesend sein würden. Ich konnte mir aber unter allem nichts vorstellen und war auch nicht gewillt, Näheres in Erfahrung zu bringen. (Mit anderen Worten: Landgerichtsrat Hartmann will nichts wissen, will seine Sache gut machen, nicht nach links und rechts schauen, sein Haar ist ohnehin schon verweht genug.) Nach dem Mienenspiel der im Gerichtssaal Anwesenden zu urteilen, ist zumindest der Mehrzahl der Erschienenen der Sinn der ganzen Angelegenheit nicht klar geworden.

Zufällig (wer soll das glauben?) habe ich vor ca. ½ Stunde einen entsprechenden Artikel in der „Freiheit“ gelesen. Ich betone aber, daß die in diesem Artikel aufgestellten Vermutungen durch den gestrigen nackten Tatbestand nicht gestützt werden. Es ist auch keine Andeutung gefallen, daß die Annahme zutrifft. Da mir der Sinn der ganzen Angelegenheit auch nachträglich nicht klargeworden war, hatte ich heute morgen die „Allgemeine Zeitung“ in Mainz daraufhin einer Nachprüfung unterzogen und war nicht erstaunt, keine entsprechende Veröffentlichung zu finden. Daß die „Freiheit“ eine sozialdemokratische Zeitung war, gefiel nicht jedem, daß Kornitzer sie als Sprachrohr benutzte (oder von ihr benutzt wurde), schien verwerflich. Die Ernennung des neuen Landgerichtspräsidenten war ein Tabu. Hartmann unterzeichnet groß und deutlich, viel sicherer, als all sein Nichtwissen und Nichtwissenwollen vermuten ließ.

Auch Hartmann wird am Nachmittag von Landgerichtsdirektor Haldt noch zu einer Vernehmung bestellt, und er gibt vor dem Justizobersekretär Fell, für den dies ein harter, arbeitsreicher Tag gewesen ist, zu Protokolclass="underline" Ob die von Dr. Kornitzer erwähnte Pressebesprechung nur beabsichtigt oder schon fest beschlossen sei, war aus seiner Erklärung nicht zu entnehmen. Ob Dr. Kornitzer auch etwas geäußert hat, wo er die Pressekonferenz abhalten wolle, weiß ich nicht.

Heute nachmittag hat mir Dr. Kornitzer den Artikel aus der heutigen Nummer der „Freiheit“ vom 21. 9. 1956 mit der Überschrift „Niemand darf benachteiligt werden …“ gegeben — er hatte ihn aus der Zeitung herausgerissen. Weder er noch ich haben bei der Übergabe dieses Zeitungsausschnittes etwas geäußert, außer daß Dr. Kornitzer sagte, es habe ihm ferngelegen, auf den Fall Benz anzuspielen. Dr. Kornitzer wußte um diese Zeit schon, daß ich heute Nachmittag meine Äußerung abgeben solle oder vernommen werde. Das Protokoll wurde von Haldt, Hartmann und dem Justizobersekretär Fell gemeinsam unterzeichnet.

In dem Zeitungsartikel heißt es: Wer die Meldung über die Ernennung des neuen Landgerichtspräsidenten Dr. Benz in Mainz aufmerksam gelesen hat, der mußte zu interessanten Überlegungen kommen. Es heißt nämlich dort, daß der neue Präsident evangelisch sei und damit der turnusmäßige Wechsel bei der Besetzung der Posten der Landgerichtspräsidenten in Rheinhessen gewährleistet sei.

Nun mag man aber darüber streiten, ob ein katholischer oder ein evangelischer Landgerichtspräsident mehr oder weniger „rechtes Recht“ spreche. Aber um alles in der Welt, was hat die Konfession mit der Rechtsprechung zu tun? Oder soll der neue Landgerichtspräsident deshalb besonders vorzuziehen sein, weil etwa seine Frau katholisch ist und er evangelisch, und damit die Parität geradezu in höchster Vollendung erreicht wird? Sicher wollte Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer auf diese Gedankengänge hinweisen, als er zu Beginn seiner gestrigen Verhandlungsführung den Artikel 3 des Grundgesetzes und den Artikel 97 zitierte, der die Unabhängigkeit der Richter garantiert. In einer Besprechung mit der Presse will Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer demnächst seine Gedankengänge dazu näher erläutern. Sie werden sicher von Interesse sein.

Obwohl alle angeforderten Protokolle über den Vorfall auf den 20. September datiert waren, gab es in fast allen handschriftliche Änderungen, die auf den 21. September lauteten. Und das Datum des Zeitungsartikels war ebenfalls verräterisch. Hätte ein solches Dilemma, ein Aufruhr in einem Landgericht — ein Landgerichtsdirektor verliest ein, zwei Paragraphen des Grundgesetzes und lädt zu dieser Aktion einen Pressevertreter ein — innerhalb von 24 Stunden zeitlich eingegrenzt und wie ein Virus in einer konzertierten Aktion bekämpft werden müssen? Eine Aktion, die man vermutlich ein gutes Jahrzehnt später im Rheinland ein Happening genannt hätte, wenn ein Professor einer Kunstakademie etwas Ähnliches getan hätte. Alles war eben erst geschehen, und es war, als wäre es nicht geschehen, als hätte es nie, nie geschehen dürfen, aber wie sollte es weitergehen, wenn der aufrührerische Akt doch geschehen war? Alles kam darauf an, eine Kontinuität zu erzeugen, die Zeugen zu befragen, den Schaden zu begrenzen. Und es kam darauf an, aus einem Akt eine Akte zu fabrizieren, die an das Ministerium der Justiz gesandt werden könnte, sogleich am 21. September, und die Akte wurde durch den im Briefkopf firmierenden Oberlandesgerichtspräsidenten Walther übersandt, von Mainz nach Koblenz und zurück nach Mainz. Das ist der Dienstweg, er ist mit Ängsten gepflastert, nur nichts falsch machen, handeln und das Verhandelte dokumentieren. Nur nicht stolpern, nicht ausrutschen auf dem glatten Dienstweg. Man muß sich verdient machen als Beamter. Aus einem Akt wird eine Akte, aus einem Handelnden ein Täter. (Opfer?) Es ist eine systematische Arbeit der Zermalmung der Erinnerungsfähigkeit, ein Anschwellen des Papierberges, mit dem die verschiedensten Personen befaßt waren. Das Gericht ist kein Ort der Offenbarung, nicht einmal der Offenlegung, ja, eigentlich ist es ein heißer Ofen, in dem Delikte, Strukturen, Zuständigkeiten gebacken werden. Alles pressierte, der Vorfall, die Tat mußte sorgsam präpariert werden, alle Fingerzeige, alle Fingerabdrücke, alle Denkbewegungen und Bewegungen des Zweifels waren von Bedeutung, und nun war alles Papier, alles im dienstlichen Auftrag des Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten vom 21. 9. 56. Wer schießt so schnell? Wer will so schnell eine Sache vom Tisch haben? Oder brennt es vielleicht schon, wenn man zwei Artikel des Grundgesetzes auf ihm ausbreitet?

Während Landgerichtsdirektor Haldt noch den Landgerichtsdirektor Hartmann vernahm, kam ein Anruf eines Anwaltes, mit dem Kornitzer gerne zusammenarbeitete. Er hatte ihm geholfen, seine „Sache“, so sagten Juristen ja, seine Sache mit dem Land Rheinland-Pfalz zu klären, sein Dienstalter, seine Ansprüche, die ihm erwachsen waren seit der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis, seine verlorengegangene Zeit und die verspäteten Ernennungen, das war alles gelungen, darüber gab es keinen Zweifel, und so war Westenberger ein naher Mensch geblieben, obwohl sich Richter und Rechtsanwälte nur selten befreunden. (Distanz tat gut.) Aber Westenberger hatte Kornitzers Sache beherzt weitergetrieben, bis zu ihrem guten Abschluß. Es war ja empfindlich genug gewesen, neu beamtet als Landgerichtsrat gegen seinen Arbeitgeber klagen zu müssen, nicht weil der Arbeitgeber ihm ein einziges Haar gekrümmt hatte (oder doch — oder Schlimmeres?), sondern weil der Arbeitgeber die Rechtsnachfolge seines vormaligen Peinigers, des Deutschen Reiches in seiner Gestalt als Drittes Reich, angetreten hatte. Westenberger berichtete Landgerichtsdirektor Haldt, daß Kornitzer augenblicklich und auch vermutlich am morgigen Tag in einer solchen Verfassung sei, daß der Arzt ihm jede Aufregung verbiete. (Also hatte Kornitzer nach der Kammersitzung seinen Arzt aufgesucht?) Er sei jedenfalls nicht in der Lage, sich zu der neuen Angelegenheit vernehmen zu lassen, schrieb Westenberger. (Hatte Kornitzer sich schon zu früheren vernehmen lassen müssen? In welchen Angelegenheiten? Und wenn es solche gab, warum waren sie nicht dokumentiert?) Im übrigen bat Westenberger doch darum, Kornitzer schriftlich zu hören, um ihm die Aufregung (auch die Demütigung!) einer persönlichen Vernehmung zu ersparen. Landgerichtsdirektor Haldt legte in seiner Aktennotiz noch einmal dar, er habe den Anwalt befragt, ob sich Dr. Kornitzer damit krank melden wolle oder ob und wann er glaube, sich vernehmungsfähig zu fühlen. Haldt vermerkte: Rechtsanwalt Westenberger versprach nach nochmaliger Rücksprache mit Dr. Kornitzer, mich noch einmal anzurufen. Kurz darauf erfolgte auch dieser Anruf, und Rechtsanwalt Westenberger teilte mir mit, über den Zeitpunkt, wann Dr. Kornitzer wieder einer Vernehmung sich gewachsen fühle, könne er nichts sagen. Jedenfalls sei er weder heute noch morgen hierzu imstande.