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Frank Schätzing

LAUTLOS

Roman

Verschmitzt, für Paul

Eine Gesellschaft, die alles weiß, weiß nichts.

Theodor Adorno

EINFÜHRUNG

In den neunziger Jahren ist die Welt zweimal mit Krieg konfrontiert worden. 1991 mit dem Krieg am Golf und acht Jahre später mit dem Krieg um das Kosovo.

So jedenfalls stellt es sich in der Erinnerung dar.

Tatsächlich waren in der letzten Dekade des zweiten Jahrtausends weit über hundert Nationen weltweit in kriegerische Aktivitäten verwickelt, starben Millionen Menschen im Zuge bewaffneter Auseinandersetzungen und an den Folgen von Folter und Vertreibung. Die Schauplätze reichten von Ruanda über Tibet und die Kurdengebiete bis nach Tschetschenien und in den Gaza-Streifen. In weiten Teilen Afrikas und Südamerikas forderten Bürgerkriege große Opfer. Dennoch haben nicht, diese Konflikte die Frage über die Führbarkeit von Kriegen neu aufgeworfen, sondern das Gerangel eines Despoten um Ölquellen und das eines anderen um ein Stück Land, auf dem vor über sechshundert Jahren ein gewisser Fürst Lazar den Osmanen unterlag.

Wirft man einen Blick auf die rasante Entwicklung der westlichen Medienkultur, wird klar, warum wir die Dinge so sehen. Fernsehen und Internet verschaffen uns Zugriff auf nahezu jede gewünschte Information. Wir können uns nach Belieben mit Daten versorgen und müssen dafür nicht einmal Wartezeiten in Kauf nehmen. Kein Teil der Welt, kein Fachgebiet, keine Intimität bleibt uns verschlossen. Im Gegenzug haben wir unser Urteilsvermögen eingebüßt. Wir bemessen die Wichtigkeit weltweiter Vorgänge daran, wie lange im Fernsehen darüber berichtet wird. Zwei Minuten Tschetschenien, drei Minuten Lokales, eine Minute Kultur, das Wetter. Das Problem ist, dass wir uns angewöhnt haben, dieser medienseits vorgenommenen Wertung blind zu vertrauen. Als Folge unterliegen wir einem Irrtum. Wir verwechseln die Frage, ob eine Sache für uns interessant ist, mit der Frage, ob sie grundsätzlich interessant ist, und lassen diese Frage von den Medien beantworten.

Aus der Sicht des Westens hat es darum tatsächlich nur zwei Kriege gegeben, nämlich jene beiden, die uns zwangsläufig interessieren mussten. Spätestens als Saddam Hussein damit drohte, Kuwaits Ölquellen anzuzünden, ging dieser Krieg jeden etwas an. Fachleute prophezeiten ein globales ökologisches Desaster. Der Regionalkrieg wurde zum Weltkrieg, beherrschte die Medien und die Meinungen.

Weit rätselhafter stellt sich auf den ersten Blick das weltweite Interesse am Schicksal der Kosovo-Albaner dar – vor allem in Amerika, einem Land, in dem kaum jemand die geringste Ahnung haben dürfte, wo das Kosovo überhaupt liegt und warum man sich dort seit Jahren an die Gurgel geht. Hinzu kommt, dass Slobodan Milosevic nicht mal einen souveränen Staat überfallen hatte, sondern sich sozusagen im eigenen Haus herumprügelte. Dass dennoch ein weiterer Weltkrieg daraus wurde – im Sinne eines Krieges, der die ganze Welt beschäftigte und in Atem hielt –, verdankt sich einem neuen Begriff, der klammheimlich Einzug ins Vokabular der Weltpolitik hielt – dem »Krieg der Werte«.

Dieser Begriff sorgte für alles Mögliche, nur nicht für Klarheit. Natürlich ist es von großem Wert, Menschenleben zu retten. Fest steht aber auch, dass jede noch so gut gemeinte Hilfsaktion in völlig anderem Licht erscheint, wenn sie stellvertretend für die Machtverhältnisse in der Welt durchgeführt wird. Gelangen wir zu dem Schluss, dass Kriege wieder führbar sind, schließt das auch mit ein, wer diese Kriege führen darf. Nämlich der mit den meisten Waffen und den meisten Werten beziehungsweise dem, was er dafür hält. Ist eine Nato also wertemäßig legitimiert, zu den Waffen zu greifen, hat das weniger mit den tragischen Vorgängen in einem Balkanstaat zu tun als vielmehr damit, wer der Welt zukünftig ihre Werte verordnet und nötigenfalls jedem eins auf den Hut haut, der sie nicht befolgt.

Etwas blauäugig ging der Westen davon aus, diese Idee fände allgemein Akzeptanz. Und dass auch diesmal wieder, ähnlich wie am Golf, eine ganze Welt geschlossen gegen den Erzschurken stünde. Stattdessen lief der Konflikt aus dem Ruder und artete in ein grundsätzliches Kräftemessen aus. Was im Kosovo begonnen hatte, fand sich wieder in den Straßen Pekings, wo amerikanische Flaggen verbrannt wurden, stellte die deutsche Bundesregierung vor tief greifende Verfassungsfragen und manövrierte Russland in eine gefährliche Außenseiterrolle.

Vor all dem saß und sitzt der normale Konsument der Abendnachrichten und sehnt sich im Wunderland globalen Infotainments zurück nach seinem abgeschotteten Tal, nach Überschaubarkeit und Problemen, die er versteht. Unfähig, die Wirklichkeitsschnipsel aus aller Welt ins rechte Verhältnis zu setzen, sucht er sich einen schlichten, kleinen Ausschnitt, um endlich wieder Anteil nehmen zu können, widmet seine ganze Betroffenheit dem einzelnen, im Fernsehen gezeigten Flüchtling, um den es längst schon nicht mehr geht.

Seine Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit.

Im Juni 1999 erlebte dieser normale Nachrichtenkonsument dann die Kapitulation Milosevics und den Gipfelmarathon in Köln. Der Frieden überstrahlte alles. Der abschließende G-8-Gipfel präsentierte Bilder der Eintracht. Clinton, Jelzin, Schröder, alle schienen sich wieder lieb zu haben. Da die meisten Menschen immer noch nicht so richtig wussten, worum es in dem Krieg überhaupt gegangen war, vertrauten sie auch diesmal den Bildern und gaben sich der Vorstellung hin, einem Film mit Happy End beigewohnt zu haben.

Aber so einfach geht das nicht in einer vernetzten Welt, in der täglich komplexere und abstrusere Interessengeflechte entstehen.

Niemand hätte vermutet, dass die Intervention in Jugoslawien Boris Jelzin dazu veranlassen könnte, mit dem dritten Weltkrieg zu drohen. Niemand konnte ahnen, dass die Kosovofrage schon lange vor dem Krieg Kräfte auf den Plan gerufen hatte, die ganz eigene Ziele verfolgten. Im globalen Netzwerk sehen wir nur noch, was passiert. Nicht mehr, worum es geht. Nicht, wer Einfluss nimmt und mit welchen Auswirkungen. Vor diesem Hintergrund haben sich die Ereignisse während des Kölner Gipfels abgespielt, die nicht in die Medien gelangt sind und in den Akten nur als »der Zwischenfall« auftauchen. Dieser »Zwischenfall« hat auf erschreckende Weise deutlich gemacht, welche Gefahren ein globales Dorf bereithält, in dem sich die Bewohner nicht mehr auskennen und selbst die Entscheider jeden Überblick verloren haben. Und dass wir gut beraten sind, unserer Vorstellung der Wirklichkeit mit Skepsis zu begegnen.

In den Zeitungen wird man keinen Hinweis auf den »Zwischenfall« finden. Nichts davon drang damals an die Öffentlichkeit. Ohnehin sind die meisten derer, die direkt darin verwickelt waren, tot, und die Regierungen der beteiligten Länder haben wenig Interesse daran, die Sache publik zu machen.

Weil der »Zwischenfall« in den Medien nicht auftauchte, hat er am Ende gar nicht stattgefunden.

Das ist seine Geschichte.

KölnBonn Airport Diagramm

PHASE 1

1998.20. NOVEMBER KLOSTER

Der alte Mann nahm mit halbem Bewusstsein das Geräusch des Wagens wahr, der sich aus der Ferne näherte. Er starrte hinaus auf die Umrisse der Berge jenseits der baumbewachsenen Hügel, die Hände auf die steinerne Brüstung gestützt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Er hätte nur wenige Schritte nach rechts tun müssen, und der Schatten des mächtigen Giebeldaches über ihm wäre dem warmen Sonnenteppich gewichen, der das Land bis zum Horizont überzog. Es war ein ausnehmend klarer Tag und der Himmel von jenem Blau, das einen den Weltraum erahnen lässt, und trotz der späten Jahreszeit war es warm wie im Juli. Aber der alte Mann zog die Kühle vor. Die Augen unter den weiß durchsetzten Brauen zusammengekniffen, so dass sie im Gewirr der Faltenrisse kaum auszumachen waren, das Kinn vorgereckt, suchte er Distanz zur Schönheit der Landschaft. Die Zeit war noch nicht reif, um die Stufen der alten Klosterkirche hinunterzugehen, dorthin, wo die Stiefelsohlen einen Zentimeter versinken würden im weichen Gras und Erdreich und man Lust bekäme, auszuschreiten zu den so nahen und doch unerreichbar fernen Bergen. Was den Alten interessierte, ließ sich nicht erwandern. Es war noch hinter den Bergen, und es war nicht das Meer und auch nicht ein noch größeres und weiteres Land, sondern eine Vision.