»Sagen Sie es.«
Der Alte beugte sich vor und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Weil ich in seiner Erde wurzele. Ich bin ein alter Baum, Mirko, und ich kann Ihnen sagen, das Land hat sein eigenes Leben und einen gewaltigen Puls. Hier in der Wildnis können Sie seine tiefen, unruhigen Atemzüge vernehmen, sein qualvolles Stöhnen. Nicht in irgendeinem komfortablen Louis-Quatorze-Zimmerchen! Das Blut unserer Vorfahren durchströmt das Sediment, die Schreie der Entrechteten mischen sich in den Sturm, der durch die Täler fegt, das Gelächter der Gottlosen! Nur hier draußen hören Sie das. Wo die Sonne herniederbrennt und Ihnen der Wind um die Ohren pfeift, da sind Sie weit genug weg vom narkotisierenden Moder, der den Stätten der Diplomatie entströmt. – Ich sage, wir haben genug geredet! In dem Unwetter, das Sie gerade durchquert und wahrscheinlich aus tiefstem Herzen verflucht haben, erkenne ich die Musik des Aufbegehrens: Nein, wir werden uns nicht entwaffnen lassen! Ja, wir werden verhindern, dass hergelaufene Usurpatoren und Mörder unsere von Gott verliehene Heimat an die Ungläubigen und Minderwertigen verteilen! Der Gesang der Toten, Mirko, ihm lausche ich, sie sagen mir, was ich für die Lebenden zu tun habe, was meine Aufgabe ist.«
Er wartete, als wolle er abschätzen, wie seine Worte wirkten. Mirko rührte sich nicht.
»Darum bin ich hier«, fuhr der Alte ruhiger fort, »weil man die gepeinigte Kreatur in Augenschein nehmen und eins mit ihr werden muss, um ihr Leid zu begreifen. Ich sitze in dieser Kirche, weil sie unsere Kultur symbolisiert, unser Erstgeborenenrecht. Und weil sie zerfällt, so wie das Land zerbrochen und einem Zoo gleich geworden ist, in dem die Affen das Sagen haben.« Er lächelte grimmig. »Aber das wird sich ändern. Und Sie werden uns dabei zur Seite stehen. Nicht wahr? Das werden Sie doch.«
Mirko betrachtete ihn und fragte sich, wie viel von dem Unsinn der Alte selbst glaubte. Konnte es sein, dass dieser hemmungslose und genusssüchtige Machtmensch, der dort in gespielter Bescheidenheit an seinem Becher nuckelte, seinem eigenen Drehbuch aufgesessen war?
»Könnte sein«, sagte er.
Der alte Mann runzelte die Stirn und knallte seinen Becher auf die Platte. Die Maske des Predigers wanderte in die Requisite.
»Der Wortlaut Ihrer Nachricht klang verbindlicher als ›könnte sein‹.«
»Ich will nur keine vorschnellen Hoffnungen wecken.«
»Ich bin aber nicht hergekommen, um Zeuge Ihrer Ratlosigkeit zu werden. Haben Sie nun was für mich oder nicht?«
Mirko nahm einen Zug aus seinem Becher. Er hasste es, angepö- belt zu werden. In solchen Momenten blieb er die Antwort exakt so lange schuldig, wie der andere brauchte, um sich brüskiert zu fühlen.
Der alte Mann starrte ihn an.
»Ja, ich habe jemanden«, sagte Mirko. »Eine Frau. Sie hört auf den Decknamen Jana.«
»Serbin?«
»Geboren und aufgewachsen in Belgrad.«
»Gut!«
»Spricht außer Serbisch fließend Deutsch, Italienisch und Englisch. Ich würde sie zu den zehn gefragtesten Spezialisten der Welt rechnen.« Er machte eine Pause. »Und zu den zehn teuersten.«
Die Augen des Alten verengten sich zu Schlitzen. Mirko sah, dass ihn die Nachricht erregte.
»Mehr«, drängte er. »Sie müssen schon ein bisschen präziser werden.«
»Es gibt nicht viel zu präzisieren. Ich konnte noch nicht mit ihr persönlich zusammentreffen. Das ist so gut wie unmöglich. Sie benutzt verschiedene Tarnungen, aber man kommt über Umwege immerhin an ihren Finanzdirektor. Neunundneunzig Prozent aller Anfragen lehnt er grundsätzlich ab. Diese fand sein Interesse. Er hat mit ihr darüber gesprochen.«
»Eine Terroristin mit Finanzdirektor?«
»Nicht doch«, sagte Mirko, ohne sich den Spott verkneifen zu können. »Terrorismus ist ein schlimmes Wort, das hört man in der Branche nicht so gern.«
»Sie meinen, ich könnte die Dame kränken?«, kicherte der Alte.
»Nein«, gab Mirko ruhig zurück. »Sie werden überhaupt nie die Gelegenheit haben, sie zu kränken, weil Sie nicht mit ihr zusammenkommen werden. Aber ich werde es tun. Falls wir – falls Sie! – ihren Preis akzeptieren.«
»Sie weiß, worum es geht?«
»Sie weiß, um wen es geht.«
»Und?«
Mirko zuckte die Achseln. »Haben Sie fünfundzwanzig Millionen übrig?«
Im Gesicht seines Gegenübers machte sich Erstarrung breit. Einen Moment lang wirkte der Mann wie sein eigenes Memorial.
»Dafür will ich ein Wunder«, sagte er tonlos.
»Jana geht davon aus, dass Sie eines wollen«, sagte Mirko. »Es gibt nicht viele Möglichkeiten, dieses Wunder zu vollbringen, aber dass fünfundzwanzig Millionen viel Geld sind, weiß sogar sie.«
»Und was ist alles drin in diesen… fünfundzwanzig Millionen?«
»Jana. Ihr Kopf, ihre Ideen, die Ausführung.«
»Sonst nichts?«
»Material und Spesen gehen extra. Auch die Branche arbeitet marktwirtschaftlich. Natürlich sagt uns der gesunde Menschenverstand, dass es andere Gelegenheiten gibt, Ihren Auftrag auszuführen. Mit mehr Aussichten auf Erfolg. Weniger schwierig. Der Preis würde sich mindestens halbieren.« Er machte eine Pause. »Aber Sie wollen das Brett ja unbedingt an der dicksten Stelle anbohren.«
Der Alte beugte sich vor. Seine blauen Augen leuchteten.
»Wir sprechen hier von einer unabdingbaren Notwendigkeit«, sagte er. »Aber natürlich geht mein Ansinnen noch darüber hinaus. Ich will einen Aufschrei! Etwas, wonach die Welt sich schneller dreht! Mir ist klar, dass es einfachere Möglichkeiten gibt. Wo es eine gibt, gibt es Tausende. Aber die Macht der Symbolik liegt im Wie und Wo und Wann! Ich will diesen einen Tag, Mirko. Ich werde Ihnen sogar sagen, welche Minute und welchen Quadratmeter! Und wenn es tausendmal unmöglich ist, werde ich für fünfundzwanzig Millionen verlangen, dass es geschieht! Ist das klar? So spektakulär, so beschämend für unsere Feinde, dass zuerst die Titelseiten und dann die Geschichtsbücher voll davon sein werden.«
»Oh. Sie wollen in die Geschichte eingehen?«
»Ich bin in die Geschichte eingegangen! Jetzt mache ich mich persönlich daran, sie umzuschreiben.«
Mirko sah auf seine Fingernägel.
»Es steht mir natürlich nicht zu…«, sagte er gedehnt.
»Was?«
»Ich dachte nur einen Moment lang, dass unserer kleinen Aktion doch mehr zugrunde liegen müsste als Ihre persönlichen Animositäten. Ich meine, bei fünfundzwanzig Millionen.«
Der Alte klappte die Lippen nach innen und produzierte ein Haifischlächeln.
»Sie nehmen sich in der Tat einiges heraus. Aber das gefällt mir. Wer mir in den Arsch kriechen will, nimmt jahrelange Wartezeiten in Kauf, der Andrang ist beträchtlich. Ich hätte es Ihnen ohnehin gesagt, schließlich sind Sie mein strategischer Feldherr.« Er zwinkerte. »Sie sehen, ich lebe in der beruhigenden Gewissheit, Sie überall ausfindig zu machen, falls Sie mein Vertrauen enttäuschen sollten.«
»Wie Sie schon letztes Mal bemerkten.«
»Man kann den Dingen nicht genug Nachdruck verleihen. Sagen Sie dieser Dame, ich akzeptiere ihre fünfundzwanzig Millionen, sobald ich ihre Referenzen überprüft habe. Sie hat doch welche?«
Mirko lächelte.
»Wenn Sie in Russland jemanden anheuern wollen, können Sie wählen zwischen halblegalen professionellen Boxervereinen, Veteranen aus dem Afghanistankrieg, Spezialeinheiten der Polizei, Ex-KGB-Offizieren und Beamten des Innenministeriums. Es gibt ein Klassifikationssystem innerhalb der Branche. An der Spitze stehen ehemalige Angehörige des Militärischen Geheimdienstes oder aus der 1. Abteilung des KGB. Die Auswahl ist beträchtlich, und dennoch haben einige der einflussreichsten Vertreter der Moskauer Mafiokratie auf Jana zurückgegriffen. Sie taucht auf, macht ihren Job und hinterlässt keine Spuren, beziehungsweise nur solche, die sie hinterlassen möchte. Die Russen schätzen ihre Zuverlässigkeit, übrigens auch der israelische Geheimdienst. Jana ist absolut neutral, solange es nicht um serbische Belange geht. Ich stelle Ihnen ein paar Details zusammen, das meiste werden Sie aus den Nachrichten kennen. Jedenfalls haben Sie da alles, was Sie wollen. Die erste Garnitur, einhundert Prozent serbisch, meines Wissens im höchsten Maße patriotisch.«