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»Also geht es um die Demonstration von Macht.«

»Natürlich. Terrorismus ist immer da, wo Macht und Gewalt sich treffen, und sie treffen sich vor allem in den Medien. Macht erwächst aus Publicity und Anerkennung. Wenn Sie herausfinden wollen, was ein professionelles Terrorkommando plant und wie sie es umsetzen werden, müssen Sie einfach nur an die Hauptsendezeiten denken. Terroristen sind scharf auf Medienpräsenz. Was da am besten ankommt, werden sie tun, und die Medien sind allzu bereit, dem entgegenzukommen. 1975, die Besetzung des OPEC-Hauptquartiers in Wien und die Entführung der Ölminister, wissen Sie noch? Die Terroristen flohen auf höchst dramatische Weise mit ihren Geiseln aus dem Gebäude – aber erst, als sie sahen, dass auch genug Fernsehteams beisammen waren.«

»Frei nach dem Motto, schieß jetzt nicht, Abdul, es ist noch nicht Hauptsendezeit?«

»Genau. Das muss man wissen, wenn man verstehen will, warum sich solche Kommandos schwierige Situationen aussuchen. Clinton heute Abend zu töten, ist so gut wie unmöglich. Es zu schaffen hieße, dem gesamten westlichen Sicherheitsapparat den Mittelfinger zu zeigen, und zwar vor laufenden Kameras. Wir würden für machtlos erklärt.«

Sie fuhren fort mit ihrer Analyse. O’Connor füllte hin und wieder die Gläser, bis Silberman abwinkte.

Am Ende blieben zwei Namen übrig. Bill Clinton – und Boris Nikolajewitsch Jelzin.

Jelzin. Zar Boris. Warum nicht?

Aber Jelzin kam erst in drei Tagen. Und er hatte seine mächtigsten Feinde nicht in der Welt, sondern im eigenen Land.

»Sie wollen Clinton«, konstatierte Silberman.

»Ja. Aber wer will Clinton?«, sagte O’Connor. »Wer sind sie?«

Silberman spielte mit seinem Glas und schob es durch die Gegend. »Ich würde sagen, es hängt davon ab, auf welchen Anlass sich das Attentat bezieht. Wenn es rückwirkend mit dem Weltwirtschaftsgipfel zu tun hat, kommt praktisch jede radikale Gruppierung in Frage, die ›Dritte Welt‹ auf ihrer Fahne stehen hat.«

»Die ewige Betroffenenliga? Kaum vorstellbar. Ich bin da wenig bewandert, Aaron. Aber dass ein Haufen Menschenrechtler diesen Sicherheitsgürtel durchbrechen könnte, ist noch nicht mal gute Science-Fiction. Sie haben selbst gesagt, es ist so gut wie unmöglich, Clinton hier zu töten.«

»Wohl wahr.« Silberman überlegte. »Außerdem, was immer sie vorhaben, es muss eine Stange Geld gekostet haben.«

»Und wer hat das meiste Geld?«

»Die Staaten. Ich meine, Staaten grundsätzlich. Regierungen. Stimmt schon. Eine Aktion wie diese riecht förmlich nach Nationalismus. Man entmachtet nicht nur Amerika, sondern das Gastgeberland Deutschland gleich mit. Und alle anderen, die an dem Treffen teilnehmen.«

»So. Und wer hasst die Amerikaner im Augenblick am meisten?«

»Die Frage muss heißen, wer hasst die Nato. Und für wen wäre Clintons Kopf die größte Trophäe aller Zeiten?«

»Serbien. Milosevic.«

»Er würde zum Volkshelden.«

»Ja.«

»Sie würden ihn mythisch verklären. Und Milosevic ist durchaus sein eigener Mythos, er hat sich erschaffen als Reinkarnation des unseligen Fürsten Lazar, um die Schlacht auf dem Amselfeld diesmal zu gewinnen.« Silberman hob die Brauen und sah O’Connor an. »Ist das nicht bemerkenswert? Alle großen Faschisten hatten diesen eigenartigen Hang zum Mythischen. Ich denke, wenn wir die Staatsmänner der Welt in Hinsicht auf ihr Mythenverständnis ins Auge fassen, sollten wir eigentlich so etwas wie eine Hitler-Früherkennung entwickeln.«

»Nur dass…« O‘Connor zögerte. »Die Theorie ist schlüssig. Sollte

es uns stören, dass Paddy Ire ist?«

Silberman schüttelte den Kopf.

»Der internationale Terrorismus ist ein Arbeitsmarkt. Paddy ist nicht der Kopf. Der Kopf verrät uns, mit wem wir es zu tun haben. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Liam.«

Silberman begab sich auf die Toilette und ließ O’Connor mit seinen Gedanken allein zurück.

O’Connor trank weiter Portwein und fragte sich, ob sie im Begriff waren, durchzudrehen. Nachdem sie jetzt eine konkrete Theorie hatten, kam ihm das Ganze nur umso absurder und alberner vor. Er war Physiker. Sein Fachgebiet waren Photonen, seine Arbeitsstätte Laboratorien. Er schrieb Romane und erfand Geschichten. Abenteuer vollzogen sich auf gesellschaftlichem Parkett. Hier und da jemanden hochnehmen, eine wohlgezielte Beleidigung coram publico mit der Aussicht auf eine standesgemäße Prügelei – O’Connor prügelte sich nie mit Männern unterhalb seines Standes! – und grundsätzlich ein bisschen auf Messers Schneide leben. Der Rest war Arbeit, Wohlstand und Genuss. Dazwischen hatte O’Connor genug damit zu tun, sich selbst zu erfinden. Die schroffe Wirklichkeit, in der er sich plötzlich wieder fand, verwirrte ihn. Zwei erwachsene Männer wurden sich darüber einig, dass am selben Abend der Präsident der Vereinigten Staaten würde sterben müssen.

Benahmen sie sich am Ende wie die Kinder?

Sie mussten zu Lavallier, so viel stand fest. O’Connor schätzte, dass der Kommissar in seinen Ermittlungen noch nicht wesentlich vorangekommen war. Lavallier und Bär wussten, dass O’Connor ins Holiday Inn geflohen war. Bestimmt hätten sie ihn aufgesucht, wenn etwas Wichtiges geschehen wäre. Und sei es, um ihn ein weiteres Mal mit dämlichen Fragen zu löchern.

Wie er es hasste!

Plötzlich und unerwartet stellte er fest, dass er sich nach Kika sehnte.

WAGNER

Der WDR erwies sich als unübersichtlich. Wagner schaffte es dreimal, sich zu verlaufen. Nach mehrmaligem Auf und Ab über die Etagen und ergebnislosen Expeditionen in nahezu identische Gänge landete sie endlich im richtigen Vorzimmer und war gut zehn Minuten zu spät.

Sie hasste Unpünktlichkeit. Im Geiste, während sie der Sekretärin ihren Namen nannte, formulierte sie eine knappe Entschuldigung, nur um zu erfahren, dass der Redakteur in einer Sitzung befindlich und bedauerlicherweise eine weitere Viertelstunde darin verhaftet sei. Plötzlich selbst Adressatin entschuldigender Worte, wurde sie mit Kaffee und Gebäck versorgt und der Besuchercouch im leer stehenden Büro anvertraut.

Sie griff nach einem Keks und knabberte lustlos daran herum. Die Verzögerung brachte alle ihre Pläne durcheinander. Um 18.15 Uhr wurde sie in Hürth erwartet. Der Sender erwog die Installation eines zweiten literarischen Quartetts, um Triviales fürs gemeine Volk zu besprechen, und der Verlag hatte ein gewisses Interesse daran bekundet. Filmleute waren nicht sonderlich flexibel, was Terminverschiebungen anging. Jeder in der Branche war immens wichtig und entsprechend gestresst, seltsamerweise diametral entgegengesetzt zu seiner tatsächlichen Position. Es würde eine einzige Hetzerei werden nach Hürth. Zu wenig Zeit für dieses, zu wenig Atem für das nächste Gespräch. Sie hätte weiß Gott allen Grund gehabt, nervös zu sein. Und tatsächlich war sie es, aber aus völlig anderen Gründen.

Ihre Gedanken kreisten um Kuhn und was ihm passiert sein mochte. Sie machte sich Sorgen. Alles an der augenblicklichen Situation war zutiefst beunruhigend.

Und das Beunruhigendste war, dass O’Connor ihre Empfindungen vollends durcheinander brachte.

Sie überlegte, ob sie die Zeit nutzen und ihn auf seinem Handy anrufen sollte. Gut eineinhalb Stunden waren es jetzt her, dass sie ihn am Flughafen verlassen hatte, ein eher flüchtiger Kuss, eine schnelle Umarmung. Nach so viel Nähe schien die Verbindung plötzlich wie abgerissen. Sie war irritiert. Wie konnte man einander so nah sein und im nächsten Moment so fremd? Welchen Sinn ergab das? War es unmöglich, sich länger fallen zu lassen als einen verzauberten Augenblick lang in der Abgeschiedenheit eines alten Baumes?

Warum bloß musste alles immer so schwierig sein?

Sie erinnerte sich an den Text eines römischen Philosophen, über zweitausend Jahre alt, den sie einmal gelesen hatte: Wenn du plötzlich das Gefühl hast, dass Meere zwischen dir und dem anderen liegen, so kann es gleichwohl den Anfang oder das Ende einer Liebe bedeuten, du musst es nur zu deuten wissen. Wären wir uns im Klaren über unsere Gefühle und wüssten um ihre wahre Natur, ergäbe sich alles von allein. So aber übersetzen wir die Sprache unseres Herzens mit dem Kopf, und die Fehler in der Übersetzung zerstören das tiefere Verständnis der Liebe, das, was hätte werden können.