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Entstand oder verging etwas zwischen ihr und O’Connor?

Im selben Moment wurde ihr klar, dass es die Angst vor der Kälte war, die die Kälte schuf. Vor O’Connor war sie allein gewesen. Würde nun alles enden, wäre sie einsam. Am Ende bliebe, alles gegeben zu haben, um feststellen zu müssen, dass es dem anderen nicht genug war. Dass nichts mehr galt. Dass sie nicht länger die schönste Frau der Welt war.

Du bist eine komplizierte Zicke, dachte sie.

Sie zog das Handy hervor und fuhr mit dem Finger unentschlossen über die Tasten. Plötzlich verspürte sie Sehnsucht nach ihm. Und zugleich nagende Schuld, nicht all ihr Denken und Empfinden auf das Schicksal des Lektors zu verwenden. Geradezu unanständig drängte sich ihr der Gedanke auf, O’Connor genau deswegen jetzt anrufen zu können, ohne befürchten zu müssen, einmal zu oft Interesse bekundet und das Gleichgewicht der Macht gefährdet zu haben, in dem keiner dem anderen Kredit einräumt. Anruf gegen Anruf, Zuwendung gegen Zuwendung. Hast du was von Kuhn gehört? Guter Trick.

Widerlich!

Also genau deswegen nicht anrufen?

Genauso blöde. Verdammtes Taktieren! Sie hasste es, zu taktieren.

»Frau Wagner!«

Der Redakteur betrat den Raum, das breite Lächeln der Entschuldigung im Gesicht, mit dem er sich selbst die Absolution erteilte, und Wagners Gedankengänge kamen zu ihrem vorläufigen Ende.

Du bist ein Feigling, dachte sie, bevor sie sich erhob und dem Redakteur die Hand schüttelte. Und dann dachte sie noch, was tut er wohl gerade, der sorglose ewige Spieler, was fühlt er, was denkt er? Oder tut er nichts von beidem?

O’CONNOR

Was fühlte er?

Kika hatte versprochen, so schnell wie möglich wieder herzukommen, falls Lavallier ihn bis zum Abend nicht fortließ. Gemeinhin beunruhigten ihn derartige Versprechen. In O’Connors Ohren nahmen sie sich wie Drohungen aus. Sinistre Ankündigungen, in seinen Lebensraum eindringen und ihn fremden Bedürfnissen unterwerfen zu wollen, einem nicht von ihm gemachten Zeitplan. Jedes Mal aufs Neue hatte er sich gefragt, warum nicht alles aus Anfängen bestehen konnte, aus beliebig gedehnten ersten Malen? Er hatte die flüchtige Natur des Lichts gezähmt. Warum konnten

Liebesgeschichten nicht im Beginn verharren, konnte man ihr Fortschreiten nicht abbremsen wie Photonen? Warum unterwarfen sich Gefühle nicht der Physik? Das Chaos gebar den Augenblick, die Attraktion, die Reise ins Unbekannte, die Außerkraftsetzung von Regeln und Formen. Hierin lag etwas Großartiges. Aller Verbindlichkeiten ledig vollzog sich Einzigartiges, nie Dagewesenes, ungemein Elektrisierendes. Wie aufregend war es, Amerika zu entdecken!

Wie zäh und freudlos, es zu besiedeln!

Was folgte, waren gemeinsam verbrachte Stunden wie Perlen auf einer Schnur, sauber aufgereiht, von zunehmender Häufigkeit und Regelmäßigkeit. Man bemächtigte sich der Zeit des anderen und damit seiner Lebensumstände und seiner Person. Statuten wurden aufgestellt, feste Tage, an denen man sich sah und anderes dafür einschränkte. Dem Außergewöhnlichen folgte das Gewöhnliche. Es begann die zementartige Verdichtung zu dem, was sich irgendwann Beziehung nennen würde und mit dem Fortissimo des Auftakts nicht wesentlich mehr zu tun hatte als das repetetive Verstreichen von Minuten mit dem Urknall.

O’Connor goss Portwein nach und ließ die duftende Flüssigkeit langsam im Glas kreisen.

War es nicht genau das, was ihn immer abgestoßen hatte? Wie aus einer wilden, explosiven Leidenschaft ein domestiziertes Feuerchen wurde, auf dem der Alltag dahinköchelte. Wie der eine versuchte, dem anderen all das abzugewöhnen, weswegen er sich in ihn verliebt hatte. Feste Beziehungen liefen dem Wesen der Faszination zuwider. Das war so. Der andere begann, darüber zu befinden, was für einen wichtig war und was nicht. Man möblierte sein Leben, der andere möblierte es um. Er richtete sich so lange in der Persönlichkeit des Partners ein, bis er sich wohler darin fühlte als der ursprüngliche Bewohner. Der freie Geist verendete im Wir. Ja, wir fahren gern in die Berge. Nein, wir gehen nicht gern auf Partys. Ja, wir lieben dieses

Auto. Nein, diese Partei wählen wir nicht. Der Film hat uns gefallen. Das Buch hat uns weniger gefallen. Wir gehen jetzt nach Hause, es ist spät genug. Wir finden, wir meinen, wir sind der Ansicht, dass.

Nicht wahr, Schatz?

Alles, weil man es nicht bei der Premiere belassen hatte.

Warum sehnte er sich dann nach ihr?

Bislang hatten sie nichts zweimal hintereinander getan, sah man davon ab, dass sie sich mehrfach geliebt hatten. Aber das war ein Event, und ein Event war unteilbar. Nun jedoch, da ihre kurze und schnelle Romanze zu ihrem Höhepunkt gefunden hatte, hätte es keinen Grund geben dürfen für eine Fortsetzung. Der zweite Teil war immer schlechter als der erste. Serien waren todlangweilig.

Das alles war richtig und gewissermaßen ein schlüssig bewiesener O’Connorismus.

Was war diesmal schief gelaufen?

Das Wort mit L?

Besorgnis erfasste ihn. Es verunsicherte ihn, auf eine Weise für sie zu empfinden, die ihm nicht geläufig war. Selbst hatte er sich andeuten hören, er habe sich verliebt. Das stimmte sogar. Er hatte sich in den Augenblick verliebt. Sich hingegen in diese Frau zu verlieben, die er kaum kannte, mit dem Resultat, sie wiedersehen zu wollen, hätte er sich weigern müssen zu akzeptieren. Nicht er! Nicht Liam O’Connor, die Insel im Destillat des freien Willens.

Diese Reise nach Köln hatte alles auf den Kopf gestellt.

Silberman kam von der Toilette zurück.

»Und?«, fragte er. »Ist Ihnen noch was eingefallen?«

O’Connor erhob sich. War ihm noch was eingefallen? Der Portwein hatte ihn wunderbar erwärmt. Eigentlich konnten sie jetzt losziehen und den Terroristen eins auf den Hut hauen.

»Haben Sie den Zettel mit der Nachricht noch?«, fragte er.

»Sicher.«

O’Connor nahm das Stück Papier und betrachtete es zum hundertsten Male.

Was war ihm alles durch den Kopf gegangen vorhin? Kika. Beziehungen. Irland. Prügeleien. Seine Arbeit.

Seine Arbeit.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, die Dinge klar zu sehen, jeden Aspekt sauber abgegrenzt neben dem anderen, wie im Aufblitzen eines Stroposkops. Da, direkt vor seinen Augen, war die Lösung! Dann verschwamm alles wieder zu einem diffusen Durcheinander.

Seine Arbeit.

Paddys Arbeit?

Wo hatte Paddy überall gearbeitet?

Lavallier würde es wissen. Aber er würde es O’Connor nicht sagen. Nicht in hundert Jahren.

Und O’Connor würde ihn nicht fragen. Nicht in tausend Jahren!

»Hören Sie, Aaron.« Er schlug dem Korrespondenten freundschaftlich auf die Schulter. »Mir ist gerade eine Idee gekommen. Wir teilen uns. Sie gehen rüber ins Revier und erzählen denen unsere kleine Theorie. Ich meine, wenn Lavallier der gleichen Ansicht ist wie wir, kann er den Präsidenten immer noch woandershin umleiten. Alle dürften davon schwer begeistert sein und ihn schrecklich lieb haben für seine Entscheidung.«

»Und was machen Sie?«

»Geheime Mission.«

Silberman grinste schwach. »Sie sind unfair, Liam. Sie wissen, dass mich das als Journalist interessiert. Außerdem habe ich Ihnen maßgeblich geholfen, überhaupt eine Theorie zu entwickeln.«

»Schon gut.« O’Connor grinste zurück. »Ich will rüber in die Verwaltung. Mal hören, wo Paddy überall Hand angelegt hat.«