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»Verzeihen Sie, dass ich Sie in dieser Situation so sehr mit meinen persönlichen Anliegen konfrontiere«, sagte er. »Sie haben andere Sorgen. Ich auch. Alles, was ich sagen will, ist, dass ein politischer Totschlag unseres Präsidenten noch viel schlimmer gewesen wäre als die Beendigung seiner physischen Existenz. Wenn diese Gefahr besteht, müssen wir alles tun, um ihr entgegenzuwirken. Aber verstehen müssen wir vor allem die Signale. Unsere demokratischen Strukturen werden lautlos demontiert. Ausgerechnet Amerika zerstört sein eigenes System und lässt eine Horde erzkonservativer Geiferer und religiöser Rechter den American dream in einen Alptraum verwandeln. Auch in Europa warten fundamentalistische Ideologen und Populisten der Angst auf ihren großen Auftritt. Schauen Sie nach Österreich. Nach Frankreich, nach Deutschland. Was wird aus Russland, wenn Jelzin geht? Die Welt kann keine weitere Banalisierung der Politik verkraften, Liam. Die Spaßgesellschaft hat genug Spaß gehabt. Wir brauchen eine neue Integrität in der Politik, wir brauchen Wahrheit, und wir brauchen Menschen, die daran glauben!«

»Eine Wahrheit hört auf, wahr zu sein, wenn sie von mehr als einer Person geglaubt wird«, sagte O’Connor trotzig.

»Zufällig ist mir dieses Zitat bekannt. Es stammt von Oscar Wilde, nicht wahr? Nun, Liam, gestatten Sie mir Folgendes: Wenn ein armer Hund, der nichts zu beißen und keine Perspektive hat, aufsteht und geht, sobald es unangenehm wird, habe ich dafür tief empfundenes Verständnis. Wenn ein gelangweilter Multimillionär es tut, leistet er dem Zynismus Vorschub. Die Politiker lügen, die Faschisten prügeln sie aus dem Amt, und das Volk steht auf und geht. Ich gratuliere zu einer so erhebenden Vision vom dritten Jahrtausend.«

Silberman rückte die Brille vorsichtig auf seinem Nasenrücken zurecht, als könne sie Schaden nehmen.

»Ich hoffe, Sie nehmen das nicht persönlich. Wie hieß der Kommissar noch gleich? Lavallier. Nein, Bär. Ich rufe Sie an, sobald ich mit einem von beiden gesprochen habe.«

O’Connor nickte.

Tausend Zitate, Bonmots und geistvolle Erwiderungen lagen ihm auf der Zunge. Stattdessen sagte er nur:

»In Ordnung, Aaron. Und ich Sie.«

»Das wäre nett. Ich mache mir wirklich Sorgen um den armen Franz.«

Silberman lächelte und ging davon. O’Connor sah ihm nach und fühlte sich einigermaßen überrumpelt.

Dieser Ausflug nach Köln stellte tatsächlich alles auf den Kopf!

Mit eiligen Schritten betrat er die Verwaltung und lief die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo die Technik saß.

JANA

Kaum eine journalistische Berichterstattung war je von längerer Hand vorbereitet und einem strengeren Sicherheitsprocedere unterworfen worden als der Doppelgipfel in Köln.

Ein halbes Jahr zuvor hatten Verlage und freie Journalisten ihre Akkreditierungsgesuche beim Bundespresseamt einreichen müssen. Akkreditiert zu werden hieß nicht automatisch, für beide Gipfel zugelassen zu sein. Es gab einen Ausweis für den EU-Gipfel und einen anderen für das G-8-Treffen. Ebenso zog das Ersuchen nicht zwangsläufig die Akkreditierung nach sich. Die Personalien der angemeldeten Journalisten wurden vom Bundeskriminalamt gegengecheckt, Lebenslauf, Leumund, beruflicher Werdegang, Dauer der Zugehörigkeit zum Verlag beziehungsweise der freien Mitarbeit, eventuelle Rechtsverstöße und Verdachtsmomente, die ganze Litanei.

Wer als unbedenklich aus dem Fegefeuer hervorging, bekam den begehrten Akkreditierungsausweis zugesprochen. Im Pressezelt auf dem Kölner Heumarkt gelangten die Ausweise schließlich an ihre Besitzer. Drei Tage vor dem jeweiligen Gipfel konnte man sie dort gegen Vorlage eines größeren Packens Dokumente – Personalausweis, Zeugnisse, Akkreditierungsanträge, Beglaubigungen des Bundespresseamts und des BKA – in Empfang nehmen. Als Erstes erwarb man damit die nachträgliche Berechtigung, das Zelt überhaupt betreten zu dürfen. Weiter kam man mit dem mühsam erworbenen Kärtchen nicht. Um etwa auf die Pressetribüne am Flughafen oder vor den Gürzenich zu gelangen, bedurfte es neben dem Akkreditierungsausweis wiederum so genannter Poolkarten. Für jeden nur erdenklichen Anlass gab es diese Karten. Wer sich erfolgreich hatte akkreditieren lassen, beantragte die Poolkarten seiner Wahl zwei Monate vor dem Gipfel und holte sie am Tag des jeweiligen Events im Pressezelt ab, sofern er im Besitz eines gültigen Akkreditierungsausweises war. So schloss sich der Kreis.

Jana stand vor dem Exit »Flughafen« und wartete geduldig auf den Shuttle-Bus. Für jeden Pool gab es im Zelt einen eigenen Ausgang. Gut eine Stunde vor dem fraglichen Termin passierte man seinen Pool-Exit, flankiert von Mitarbeitern des Bundespresseamts, bestieg seinen Bus und ließ sich ans Ziel kutschieren.

Es hatte einige Mühe bereitet, Jana zugleich in den Besitz einer ordnungsgemäßen Akkreditierung zu bringen. Mirko hatte sich darum gekümmert, und er hatte seine Sache mehr als gut gemacht. Nun war sie Cordula Malik, ausgestattet mit einer wasserdichten Legende und offiziell vermerkt als freie Journalistin aus Wien, seit heute offiziell eingebucht im Hotel Flandrischer Hof auf dem Hohenzollernring. Sie besaß einen Akkreditierungsausweis und seit wenigen Minuten eine Poolkarte für die Pressetribüne auf dem Vorfeld Fracht West des Köln-Bonn Airport.

Sie sah sich um. Das zweistöckige Pressezelt war stark frequentiert. Zweifellos hatten die Organisatoren des Gipfels hiermit ihr Meisterstück abgeliefert. Halb scherzhaft, halb ehrfürchtig wurde das provisorische Headquarter des internationalen Journalismus nun »Gipfel-Ufo« genannt. Hatte man die Sicherheitsschleuse passiert, Handy und Schlüssel dem Röntgenlaufband anvertraut und sich vom Metalldetektor absuchen lassen, während Scanner über Taschen und Geräte huschten, fand man sich in einem drei Millionen teuren High-Tech-Universum wieder, das der Kommandobrücke einer überdimensionierten Enterprise glich. Im Mittelpunkt des Ufos befand sich eine kreisrunde Faxzentrale. Von dort zweigten sternförmig endlos scheinende Reihen hochmoderner Arbeitsplätze ab, ausgestattet mit Laptop-Anschluß und PC, analogen und ISDN- Telefonen, E-Mail und Internet. Über die TV-Bildschirme einer zelteigenen Fernsehstation flimmerten fortlaufend Nachrichten und Pressekonferenzen, in den Pausen lief VIVA zur Entspannung.

Einige Schritte von Jana entfernt stand ein junger, stoppelhaariger Mann und sprach in ein Diktaphon, während er von Zeit zu Zeit in einen Notizblock schaute.

»Dreitausend Journalisten finden in dem Ufo Platz«, sagte er, »die nach vorläufigen Schätzungen bereits einige hunderttausend Hektoliter Kölsch, Wasser, Limo und Cola niedergemacht und neben Zentnern von Kanapees, belegten Broten, Salaten und Törtchen an die zweitausend Kilo Lachs verspeist haben. Alle zehn Minuten treffen die Nachschublaster ein. Es ist eine gewaltige Maschinerie in Bewegung gesetzt worden, um jeden Hunger zu stillen, sei es den nach Neuigkeiten oder Kohlenhydraten.«

Er machte eine kurze Pause, blätterte in dem Block und fuhr fort: »Die Stimmung ist gut, ganz ausgezeichnet. Man hat die Journalisten mit Wundertüten beschenkt, voll der nützlichsten Dinge – Augenblick, haben wir darüber nicht schon letzte Woche was gebracht? Egal. Jedenfalls, jeder hat was springen lassen. Der WDR einen Eurorechner mit Übersetzerfunktion, Ford ein Sitzkissen, Bayer einen Blutzuckermesser, um sich selbst auf Gipfeltauglichkeit zu testen.« Er grinste in sich hinein. »Das Sitzkissen ist den meisten, sagen wir ruhig, am Arsch vorbeigegangen, der Blutzuckermesser sorgte für Ratlosigkeit und anschließendes Entsetzen, weil man sich zwecks Diagnose in den Finger pieksen musste. Dafür waren die kostenlosen Eintrittskarten zum Gipfelkonzert auf dem Roncalliplatz, das unvermeidliche Fläschchen 4711, vor allem aber die vom Bundespresseamt großzügig verteilten Kondome auf lebhaftes Interesse gestoßen. Letzteres hat den kölnischen Klerus verdrossen, ebenso wie der Umstand, dass Kölns bekannteste Lustmeile mit neuen Matratzen und zweihundert Extramädchen aufgerüstet hat und seit Wochen ein einmotoriger Flieger über dem Dom ein Transparent hinter sich herzieht, auf dem für einen Nachtclub namens ›Pascha‹ geworben wird. Der Sprecher des Erzbistums hat einiger Verärgerung Ausdruck verliehen – haben wir ein Bild von dem Typ? Nachprüfen! –, allerdings in gedämpfter Form. Die Kirche weiß sehr genau, dass sie nichts davontragen wird als den Ruf des ewigen Spielverderbers, also begegnet man dem zu erwartenden Sündenbabel mit Last-Minute- Beichtgelegenheiten und zusätzlichen Gipfel-Gottesdiensten. – Irgendwie sind am Ende doch alle wieder versöhnt, und Köln hat, was es will, nämlich eine hochzufriedene Journaille.«