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Unter allen anderen Umständen hätte O’Connor getan, weswegen Silberman ihn heute zurechtgewiesen hatte. Aufstehen und gehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Mit schier übermenschlicher Anstrengung zog er auch die Schultern über den Rand und beugte den Kopf nach unten.

»Nicht zu fassen«, sagte Pecek hinter ihm. »Wer hätte gedacht, dass der gute alte Paddy ein solches Schlitzohr war.«

Paddy?

Wieso sprach Pecek plötzlich von Paddy?

O’Connor riss den Kopf nach oben. Mit einem Ruck fuhr er zurück und rollte sich instinktiv zur Seite, gerade rechtzeitig, um Pecek mit vorgestreckten Armen heranstürzen zu sehen. Die Augen des Technikers spiegelten alles auf einmal, Hass, Wut und die Erkenntnis, dass er verloren hatte. In einem letzten verzweifelten Versuch, sich zu retten, griffen seine Hände ins Leere, dann verschwand sein Körper jenseits der Kante. Ein kurzer, gellender Schrei entfernte sich mit schrecklicher Geschwindigkeit und brach unvermittelt ab.

Keuchend prallte O’Connor auf den Rücken und rutschte über die Glasfläche der Dachschräge auf die andere Kante zu. Seine Finger bekamen eine der Streben zu fassen, die den stählernen Laufschienen als Abgrenzung dienten. Er glitt weg, strampelte mit den Beinen und suchte, zurück zu der Luke zu gelangen. Unter ihm knackte es in der gläsernen Fläche. In fiebernder Hast krallte er sich an der nächsten Strebe fest, nahm alle Kraft zusammen und schnellte ein Stück nach vorne. Seine Schulter schlug gegen etwas Hartes. Er kam hoch, sah vor sich die Luke und taumelte darauf zu.

Mit einem Geräusch, als habe jemand eine Kanone abgefeuert, brach unter ihm das Glas. Unerbittlich riss es ihn nach unten. Das Klirren und Splittern, als die Glasplatte auf der Hochebene des

Gerüsts in tausend Scherben ging, zerschnitt seine Gehörgänge, dann schlug er hart auf und fühlte einen stechenden Schmerz.

Sein Körper lag auf den Pritschen der Plattform, sechzehn Meter über dem Boden der Abflughalle, aber sein Geist stürzte unaufhaltsam weiter. Er fiel in einen endlosen, nachtschwarzen Schacht, und das Rechteck aus Licht über ihm wurde kleiner und kleiner.

Er würde zerschmettert werden. Der Aufprall würde jeden Knochen in seinem Körper pulverisieren.

Aber der Schacht schien keinen Boden zu haben, und O’Connor raste weiter abwärts, tiefer und tiefer, bis seine Moleküle auseinander gerissen wurden von der unmenschlichen Geschwindigkeit, und er erkannte, dass es ihn am Ende doch noch in das schwarze Loch gesogen hatte, in die viel beschworene Singularität des Stephen Hawking, ins kosmische Wurmloch.

Aus der Tiefe reckte sich etwas Schwarzes zu ihm hoch.

»Wissen Sie, was ein Teilchenbeschleuniger ist?«, hörte er sich trällern, ein Glas in der Hand.

»Ja«, sagte eine freundliche Stewardess. »Ich schätze, so was wie Sie. Schön, Sie an Bord gehabt zu haben, Dr. O’Connor. Sie werden jetzt sterben. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise.«

Unfähig zu schreien, fiel O’Connor in seinen eigenen Abgrund.

AIR FORCE ONE

»Honk!«

Wenn Bill Clinton sich schnäuzte, tat er es geräuschvoll und ausgiebig. Man sagte dem Präsidenten nach, sein Schnäuzen klinge wie der Schrei einer Wildgans. Der Vergleich stammte von Robert Reich, Clintons Arbeitsminister der ersten vier Jahre, der es wissen musste. Seine Kenntnis der Gewohnheiten Clintons hatte noch in Oxford eingesetzt, wo sie beide Quartier bezogen hatten in den alten Innenhöfen des University College, um im Zuge eines Jurastudiums erwachsen zu werden. Etwas, das Clinton nie vollständig gelungen war. Ein hervorragender Jurist war er geworden. Erwachsen eher nicht.

»Honk!«

Norman Guterson, Clintons Sicherheitschef, saß dem Präsidenten gegenüber, angeschnallt in einem der komfortablen weißen Sessel, die ebenso gut in jedem geschmackvoll eingerichteten Penthouse Platz gefunden hätten. Vor seinem geistigen Auge zog ein Strich Gänse vorbei, hoch am Himmel, die allesamt mit den Flügeln schlugen und »Honk!« schrien. Es war Reichs Schuld. Seit Erscheinen des Buches, das der ehemalige Arbeitsminister über seine Rolle in der Clinton-Administration geschrieben hatte, konnte Guterson nie wieder in aller Unschuld ein Niesen oder Schnäuzen seines Präsidenten hören.

Clinton knüllte das Papiertaschentuch zusammen und zog noch einmal die Nase hoch.

»Verdammte Pollen«, sagte er.

»Das ist die trockene Luft im Flugzeug«, sagte Guterson.

Clinton sah ihn an und kicherte.

»Blödsinn, Norman. Das ist Washington. Es hängt mir in den Kleidern.«

»Köln ist besser«, versicherte Guterson.

Clinton litt unter einer Reihe von Allergien. Er reagierte so ziemlich auf alles, was blühte, mit tränenden Augen und laufender Nase. Die Aussicht, zwei Perioden lang das Land zu regieren, hatte ihm keine Angst gemacht, wohl aber, Washington durchzustehen, die Pollenhauptstadt der Welt.

»Köln liegt in einer Senke, nicht wahr?«, sagte der Präsident. »Alles staut sich darin. Die Luft, der Regen, die Pollen. Wahrscheinlich werde ich aus dem Niesen nicht mehr rauskommen.«

»Wer sagt das?«

»Morris.«

Guterson schüttelte den Kopf. Dick Morris war ein Fall für sich. Es hieß, er habe ‘96 für Clinton die zweite Wahl gewonnen, indem er die Politik der hehren Absichten einer auf Umfragen und Marktforschungsstudien basierenden Strategie opferte. Am Ende der ersten Amtsperiode Clintons waren die Werte des Präsidenten in der Öffentlichkeit auf ein besorgniserregendes Niveau gesunken, trotz wirtschaftlicher Erfolge. Weiterhin hatte Clinton versucht, das zu tun, was ihm richtig und gerecht erschien. Morris hingegen hatte auf den so genannten Swing abgezielt, die Wechselwähler, ein unentschlossenes Potential, das die dringend benötigte Mehrheit darstellte. Mitte der Neunziger startete er darum eine beispiellose Marktforschung, um zu erspüren, was der Swing erwartete. Was im Swing gut ankam, empfahl er dem Präsidenten. Morris war es auch gewesen, der Vokabeln wie »Problem« und »Krise« gänzlich aus dem Wahlkampf strich. Clinton sollte nicht Probleme ansprechen, sondern gnadenlosen Optimismus ausstrahlen. Das Konzept war aufgegangen, und Morris und die Seinen feierten sich als Comeback-Macher des Präsidenten, während die sozial Schwachen weiter im Abseits verschwanden. Ihre Sorgen waren nicht populär, Clintons Kritiker, vor allem auch in den eigenen Reihen, vermerkten seitdem, der Präsident habe sich an die Marktforschung verkauft. Das mochte übertrieben sein. Unrecht hatten sie dennoch nicht in ihrer Beurteilung einer Politik, die weniger auf tatsächliche Missstände als vielmehr auf die verzerrte Perspektive eines unentschlossenen Mittelstands abzielte – frei nach dem Motto, löse nicht die Probleme des Landes, sondern das, was der Mittelstand als Problem empfindet. Am Ende der ersten Periode schienen nur noch Morris und seine Marktforschung die politische Entscheidungsfindung im Weißen Haus zu prägen. Hatte Clinton früher diverse Einschätzungen erhalten, was für die Vereinigten Staaten gut und richtig sei, wurden damals noch Optionen gegeneinander abgewogen und der Veränderungswille der frühen Jahre beschworen, schaute man jetzt in Umfragelisten.

Guterson wusste, dass es sich um kein rein amerikanisches Phänomen mehr handelte. Viele Politiker verließen sich mittlerweile auf Consultants wie Morris, die bei ihnen noch die letzten Reste von Prinzipien exorzierten und sie einzig auf ihre Vermarktbarkeit zurechtbogen. Weltweit entstanden auf diese Weise politische Superstars an der Spitze von Medienparteien, deren Charisma die kaum vorhandene Konzeptionslosigkeit überstrahlte. Tony Blair, Gerhard Schröder, sie alle waren als Lichtgestalten der Hoffnung angetreten, senkten den Altersdurchschnitt in der Politik um Jahrzehnte, gaben sich kumpelig und winkten und überlegten unterdessen, was dem Volk gefallen könnte. Gefiel es dem Volk dann doch nicht, korrigierte die Marktforschung die Strategie, und am Ende stimmte es wieder irgendwie.