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Beim Heraushuschen aus der Kapelle war er sich vorgekommen wie der Hase auf der Flucht vor den Hunden. Er hatte sich im Schatten der Hauswände gehalten und sich wahrscheinlich so verdächtig bewegt, dass jeder Idiot stutzig werden musste. Beim Überqueren der Hauptstraße war ihm das Herz in die Hose gerutscht in Erwartung, plötzlich von Autos umstellt zu sein, aus denen Polizisten stürmten. Er hatte sich gefühlt wie gebrandmarkt. Sah nicht jeder, wer er war und was er getan hatte?

Aber niemand hatte ihn beachtet, war stehen geblieben und hatte mit dem Finger auf ihn gezeigt, und dann war er schon in der schmalen, ruhigen Straße mit den Zweckbauten gewesen, wo um diese Zeit nicht mehr gearbeitet wurde und niemand mehr unterwegs war.

Er sah hinüber zur Spedition auf der anderen Straßenseite. Hatte er zu viel Zeit in der Kapelle verbracht? Die Ungewissheit war schrecklich. Vielleicht war Jana schon längst eingetroffen und hatte sich mit Gruschkow abgesetzt. Was war dann mit dem Lektor, von dem er wusste, dass sie ihn drüben gefangen hielten? War auch er tot? Hatte dieser Mirko einen weiteren Menschen getötet?

Dann fiel ihm ein, dass Jana gesagt hatte, Mirko werde am Tag des Anschlags gar nicht mehr zugegen sein. Irgendwie bestätigte dies Mahders Verdacht, dass hinter dem Kommando eine andere Macht stehen musste. Sie hatten ihm so gut wie nichts erzählt, und er war klug genug gewesen, nicht zu fragen. Er wollte nichts wissen, was seinen Kopf kosten konnte. Er wollte auch nicht wissen, ob der verdammte Lektor tot war, aber um diese Erfahrung würde er kaum herumkommen.

Ein Geräusch mischte sich in seine Gedanken, wurde lauter. Ein gleichmäßiges Knattern, das rasch näher kam. Mahder hob den Kopf zum Himmel und erstarrte.

Ein Hubschrauber!

Er kam aus Richtung des Flughafens ziemlich dicht über den Häusern herangeflogen und schien geradewegs auf ihn zuzuhalten. Mahder erschrak zu Tode. Fluchtinstinkt überkam ihn. Aber sie würden ihn rennen sehen, würden womöglich auf ihn schießen. Zitternd blieb er an seinem Platz und heftete seinen Blick auf die Maschine. Deutlich war zu erkennen, dass es sich um einen Polizeihubschrauber handelte.

Sie suchten ihn.

Sein Magen krampfte sich zusammen vor Angst. Das Dröhnen brachte die Luft zum Erzittern. Einen Moment fürchtete er, der Helikopter werde direkt vor seinen Augen auf der Straße runtergehen, Scharfschützen würden herausstürzen, er würde die Hände heben, und sie würden es missverstehen und ihn erschießen. Er schloss die Augen und rang nach Luft.

Dann war der Hubschrauber über ihn hinweggezogen und entfernte sich. Das Knattern wurde leiser. Nach einer Weile war es erstorben.

Mit einem leisen Fluch setzte sich Mahder in Bewegung und lief über die Straße, während er das FROG hervorzog und Gruschkows Nummer wählte.

»Mahder hier«, sagte er, als der Russe sich mit neutralem »Da!« meldete, russisch für Ja.

»Nicht Namen«, sagte Gruschkow.

Der Glatzkopf sprach wenig Deutsch, anders als Jana oder Mirko, die beide eine Menge Sprachen beherrschten. Wenn Jana und Gruschkow sich miteinander unterhielten, geschah es im allgemeinen auf Italienisch, mit Mirko hatte sie serbisch gesprochen. Für Mahder machte es keinen Unterschied. Außer ein paar Brocken Englisch konnte er überhaupt keine Fremdsprachen.

»Schon gut«, zischte er in das FROG. »Wo sind Sie? Sind Sie in der Spedition?«

Gruschkow ließ ein kurzes Schweigen verstreichen.

»Wo Sie?«, fragte er.

»Hier draußen. Ist Jana schon eingetroffen?«

»Njet. Nicht Namen!«

Natürlich, sie hatten sich darauf geeinigt, während der kurzen Telefonate auf Namen zu verzichten. Na und? Es war doch ohnehin alles egal, oder nicht?

»Tut mir leid«, sagte Mahder beschwichtigend. »Lassen Sie mich rein, ja? Hier draußen ist mir das zu ungemütlich.«

»Draußen?«

»Mann, Gruschkow, ich bin direkt vor der Spedition! Überall sind die Bullen unterwegs, also machen Sie das Tor auf, verdammt noch mal!«

Über Mahder setzte sich etwas summend in Bewegung. Er sah hoch und gewahrte das Auge der Überwachungskamera. Langsam schob sich das Tor zur Seite, und Mahder hastete über den Innenhof hinüber zur Halle. Er hatte erwartet, den YAG draußen postiert zu sehen, aber Gruschkow hatte den Laser entweder schon wieder hinein- oder gar nicht erst in den Hof gefahren. Der adaptive Spiegel auf seinem Stativ war wieder unter der Kistenattrappe verschwunden. Hatten sie überhaupt geschossen?

Unwichtig. Er wollte sein Geld, und er wollte es schnell. Möglicherweise konnte Gruschkow ihn auszahlen. Wenn der Russe Zicken machte, würde Mahder eben ungemütlich werden. Er konnte es sich nicht leisten, auf Jana zu warten. Mit Schwung stieß er die Tür auf und betrat die Halle.

»Gruschkow, wo–«

Etwas Kühles drückte sich gegen seine Schläfe.

»Ruhig«, sagte Gruschkow.

Mahder erstarrte. Sein Mut war wie weggeblasen. Der Russe hielt den Lauf einer Pistole gegen seinen Kopf gepresst, während er mit der anderen Hand die Tür zuwarf. Mahders Blick erwanderte die Halle. Der YAG war nicht an seinem Platz in der Mitte, sondern nahe der geschlossenen Wand zum Hof. Offenbar hatten sie ihn doch bewegt, möglicherweise wie geplant, und dann in die Halle zurückgefahren, eben so weit, wie es nötig war, um die Tore zu schließen.

Von der gegenüberliegenden Seite drang ein Stöhnen herüber. Ein Mann lag dort am Boden. Mahder schätzte, dass es der Lektor war.

Er lebte.

»Ist schon in Ordnung, Gruschkow«, sagte er so ruhig wie möglich. »Ich mach ja nichts. Ich bin ganz kusch.«

»Jemand bei dir?«, erkundigte sich Gruschkow.

»Ich bin allein. Ich will nur mein Geld und dann verschwinden. Ist das in Ordnung? Nur mein Geld.«

Gruschkow trat einen Schritt zurück und senkte die Pistole, hielt sie aber unverändert auf Mahder gerichtet.

»Warten«, sagte er. »Jana warten.«

Mahder nickte heftig. »Okay, okay. Jana warten. Wir warten auf Jana. Ich bin allein, Gruschkow, wirklich, Sie können aufhören, mir Angst zu machen. Tun Sie das verdammte Ding weg.«

Gruschkow zögerte. Dann nickte er und steckte die Waffe in seinen Gürtel. Mahder atmete auf. Er ging ein paar Schritte weiter in die Halle hinein und drehte sich zu dem Russen um.

»Und?«, fragte er. »Hat es geklappt?«

»Klappt?«, echote Gruschkow.

»Clinton!«

Gruschkow schüttelte den Kopf. Seine Brillengläser blitzten.

»Nicht funktionieren«, sagte er.

Mahder schluckte. Er hatte kaum etwas anderes erwartet, aber die Gewissheit, dass alles schief gegangen war, verstärkte seine Angst nur noch mehr. Sie waren ihnen draufgekommen. Der Himmel mochte wissen, was die Polizei schon alles in Bewegung gesetzt hatte.

»Können Sie mir nicht das Geld geben?«, sagte er. »Ich muss unbedingt verschwinden.«

»Geld Jana«, sagte Gruschkow.

Mahder seufzte. Dann zuckte er die Achseln. Sich mit Gruschkow anzulegen, würde nichts bringen. Leute wie er waren halt doch eine Nummer zu groß für den unbescholtenen Abteilungsleiter Technik Martin Mahder, dessen Leben bis vor einem halben Jahr noch in beschaulichen Bahnen verlaufen war.

Jana warten. Wenn Jana kam.

WAGNER

Die schlimmsten zwei Stunden ihres Lebens endeten, als sie O’Connor den Hubschrauber verlassen sah. Er wirkte unbeholfen und wackelig auf den Beinen, als er über das Vorfeld zu ihr herüberkam. Seine Hände waren verbunden, sein eleganter Anzug dunkel befleckt von etwas, das Blut sein konnte. Alles in allem kam er ihr vor wie nach drei Runden mit Mike Tyson, aber seine Augen strahlten, als habe er die Gameboy-Meisterschaft gewonnen.

Hinter ihm sprang Lavallier aus dem Helikopter.