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Silberman schmunzelte. Wagner sah nach Osten, wo jenseits des Frachtflughafens ein Linienjet landete.

»Ich glaube«, sagte sie nach einer Weile, »unser Problem ist, dass wir mit dieser Art der blanken Realität nicht umgehen können.«

»Wie meinen Sie das?«

»Was hier passiert ist, kennen wir nur aus Filmen.« Sie zeigte dorthin, wo der Jet eben jenseits der Frachthallen verschwand. »Das da ist unsere Realität, Aaron. Normalität. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich durchlebe meine Abenteuer für gewöhnlich im Kopf. Ich sitze vor dem Fernseher und gucke Nachrichten. Wenn mir der Sprecher erzählt, dass überall auf der Welt täglich Menschen entführt und umgebracht werden, ziehe ich das keine Sekunde lang in Zweifel, aber würde er mich anschauen und sagen, dass es morgen mich trifft, würde ich ihm einfach nicht glauben. Echten Menschen passiert nicht, was denen im Fernsehen widerfährt. Sie werden lachen, aber es fällt mir schwer, zwischen Werbespots und Nachrichten überhaupt noch eine Grenze zu ziehen. Es wirkt alles so… auf uns zugeschnitten. Part of the show.« Sie machte eine Pause. »Dass Liam und ich gestern losgefahren sind, um Paddy zu beschatten, ist kein Indiz dafür, wie ernst wir es gemeint haben, sondern dass wir es eben nicht ernst gemeint haben. Liam ist ein Spieler, und ich habe mitgespielt. Andernfalls wären wir auf die nächste Polizeiwache gefahren. Ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht, was wir da machen. Für mich war klar, dass keinem von uns was passieren wird, ich hatte keinen Moment lang Angst. Ist das nicht verrückt? Wir sind irgendeiner abstrusen Kinodramaturgie gefolgt, nicht unserem klaren Menschenverstand. Hätten wir es getan, wäre Kuhn nicht verschwunden. Basta!«

Silberman nickte.

»Kommen Sie«, sagte er. »Wir gehen ein paar Schritte.«

Sie schlenderten am VIP-Zelt entlang in Richtung Pressebereich. Wagner fühlte die Blicke der Polizisten auf sich ruhen, die von der Absperrung zu ihnen herübersahen.

»Sie machen sich Vorwürfe wegen Kuhn«, sagte Silberman. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ja.«

»Das müssen Sie nicht. Sie haben ihn zu nichts gezwungen.«

»Wir hätten zur Polizei gehen sollen.«

»Was Sie hätten tun sollen und getan haben, betrifft Ihren Umgang mit der Wirklichkeit, was Kuhn getan hat, seinen. Ich bin sehr betroffen über sein Verschwinden. Aber Sie sind nicht verantwortlich.«

»Wären wir zur Polizei gegangen, hätten wir niemanden in Gefahr gebracht.«

»Kika.« Er blieb stehen und sah sie an. Sie mochte sein rundes, freundliches Gesicht mit den kleinen Augen. »Ich verstehe Sie sehr gut. Was mich betrifft, habe ich andere Erfahrungen gemacht als Sie, ich war Korrespondent in Bosnien und Kuwait. Ich habe die Bilder geliefert, die Sie aus dem Fernsehen kennen. Die einen haben mit Waffen draufgehalten, wir mit Kameras. Natürlich haben wir uns um Objektivität bemüht, aber schon die Wissenschaft lehrt uns, dass wir nichts beobachten können, ohne es allein durch die Tatsache der Beobachtung zu verändern. Die Vorgänge passen sich an. Ich war ganz vorne mit dabei, ich habe Elend und Gewalt erlebt, und wir taten nichts weiter, als darüber zu berichten. Trotzdem habe ich mich oft genug gefragt, ob wir die Wirklichkeit mit unseren Kameras nicht schon veränderten. Ob das, was ich mit eigenen Augen sah, überhaupt im umfassenden Sinne als Wirklichkeit verstanden werden konnte. Jeder macht sich seinen Ausschnitt. Auch die Menschen, die wir filmten, wussten das und versuchten, auf ganz bestimmte Weise darin zu erscheinen. Hätten sie ihren Krieg auch so geführt, wenn sie nicht gewusst hätten, dass Kameras auf sie gerichtet sind, dass die Bilder um die Welt gehen werden? Wie viele Kriege sind mittlerweile nicht über Bomben, sondern über die Medien entschieden worden, wie viel tragen wir dazu bei, ohne es zu wollen und zu wissen? Wir mussten darüber befinden, welche Bilder wir senden, aber handelten wir richtig? Sie haben vorhin gesagt, wir können mit der blanken Realität nicht umgehen, das ist wahr. Nicht mal ich konnte das. – Nun, am Ende dieses Krieges im Kosovo, den wir alle bis vor wenigen Wochen geführt haben, was wissen wir denn da? Was weiß der durchschnittliche Amerikaner, der Deutsche, der Russe über KosovoAlbaner, was über Serben? Beide sind in letzter Konsequenz Platzhalter in einer abstrakt geführten Diskussion über Menschen- und Völkerrechte. Jedermann fühlt sich bemüßigt, über die Führbarkeit von Kriegen und die Verteidigung von Werten zu diskutieren, aber hat sich auch nur einer derer, die mahnend den Zeigefinger erheben, wirklich mit der Geschichte des serbischen und des kosovarischen Volkes beschäftigt? Was haben wir, was haben die Berichterstatter erreicht? Worüber reden wir? Milosevic ist gefährlich und amoralisch, aber wenn meine Arbeit dazu führt, dass wir die Serben verteufeln, hat mein Ausschnitt der Wirklichkeit die Wirklichkeit verbogen. Und da hadern Sie mit sich, ob es richtig war, Detektiv zu spielen! Sie waren an keiner Front, Kika, aber Sie waren dennoch bereit, einer ungeheuerlichen Vorstellung Raum zu geben, nämlich dass jemand an diesem Flughafen ein Attentat verüben könnte. Wie wollen Sie da richtig handeln? Wie viel Normalität haben Sie im Schockverfahren über Bord werfen müssen? Sie haben keine Übung in diesen Dingen, es ist bemerkenswert, dass Sie überhaupt gehandelt haben, Sie und Liam, und wie es aussieht, mit Erfolg. Wäre Clinton gestorben, hätte das der Welt einen schrecklichen Schlag versetzt. Willentlich haben Sie dazu beigetragen, ein Verbrechen zu verhindern, und wenn im Zuge dessen ein anderes geschehen ist, tragen Sie keine Schuld daran. Wollen Sie das bitte begreifen?«

Wagner sah ihn an. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Also sollten wir darangehen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen«, sagte sie.

»Ich fürchte, das ist ein zu hohes Ziel«, lächelte Silberman. »Eigentlich glaube ich, dass die Welt die Wahrheit gar nicht wissen will.«

»Stimmt«, sagte O’Connor von hinten.

Er trat zu ihnen und rümpfte die Nase. »Ich stinke wie ein Schwein! Schweiß, Blut, alles. Das kann die Welt nicht wissen wollen. Was ist, Kika, fahren wir duschen?«

VIP-ZELT

Lex kam hinter dem Paravent hervor, der die Einsatzzentrale vom Besucherteil des VIP-Zelts abgrenzte. Er ging ohne Eile zu der Sitzgruppe hinüber, ließ sich in einen der ausladenden Sessel fallen und sah sie der Reihe nach an. O’Connor war eben gegangen.

»Ist er vertrauenswürdig?«, fragte er.

»Wir können nur urteilen aufgrund der Fakten«, sagte Bär. »O’Connor ist auf Herz und Nieren überprüft worden. Es finden sich eine Reihe absonderlicher Aspekte in seiner Persönlichkeit, aber er ist sauber. Und er hat uns geholfen.«

»Er könnte seine Gründe haben, uns zu helfen.«

»Ich sehe keinen Grund, ihn festzuhalten«, sagte Lavallier. »Wir haben seine Handynummer, wir können ihn notfalls überall erreichen. Gleiches gilt für Kika Wagner und Aaron Silberman.«

Lex nickte langsam.

»Die Polizei hat reichlich zu tun in diesen Stunden«, sagte er.

Lavallier wusste, worauf Lex anspielte. Parallel zur Suche nach dem Laser, die mittlerweile verstärkt durch ostdeutsche Einheiten im Gange war, liefen die Fahndungen nach Clohessy, Mahder und die Suche nach Kuhn, von der Kontrolle der Presseleute ganz zu schweigen.

»You got no dog in this fight«, sagte Lavallier lächelnd.

Lex lächelte schwach zurück.

»Ich habe einige Telefonate geführt«, sagte er. »Natürlich muss ich anmerken, dass ich lediglich der Überbringer bin. Amerika hat nicht vor, sich in deutsche Ermittlungen einzuschalten, wenn man uns nicht explizit darum bittet, aber… na ja, wir sind gebeten worden.«

»Natürlich«, sagte Brauer, der Chef der SI.