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Sie zog eine Sonnenbrille aus der Innentasche ihres Mantels und setzte sie auf. Allmählich wurde es zu kalt, um weiter draußen auf der Terrasse zu sitzen. Ohne Hast ging sie durch die offenen Glastüren ins Restaurant und bezahlte. Der Kellner wünschte ihr einen guten Tag. Alles geschah mit der gewohnten Beiläufigkeit, die verhindert,

dass Menschen sich später an andere Menschen erinnern.

Mirko hatte möglicherweise eine schwierigere Mission zu erfüllen, als sie dachte. Er wusste, dass die Gefühle, die sie für Serbien hegte, ihre Entscheidung beeinflussen würden. Gleichzeitig konnte er unmöglich die Karten auf den Tisch legen. Die Schweigepflicht gegenüber seinen Auftraggebern hinderte ihn daran, Jana das wichtigste Argument zu liefern, das sie für eine Zusage brauchte.

Wie es aussah, hatte er es trotzdem riskiert. Zumindest lag es im Bereich des Vorstellbaren. In diesem Fall hatte er sie über die Identität des Hauptdrahtziehers nicht im Unklaren gelassen. Anschließend hatte jeder von ihnen pro forma mit dem Säbel gerasselt und den anderen seiner Ungnade versichert, falls er die Spielregeln brechen sollte.

Das Übliche.

Gemächlich trat sie auf die Straße hinaus, wählte eine Nummer auf ihrem Handy und telefonierte mit Microsoft.

JUNI. KOELN. AIRPORT

Wagner hatte sich hinter einer Illustrierten verschanzt.

»Was lesen Sie?«, wollte Kuhn wissen.

Was las sie? Eigentlich betrachtete sie Buchstaben, um Kuhn nicht zum Reden zu ermuntern. Viel schien es nicht zu helfen.

O’Connors Flug war mit dreißigminütiger Verspätung eingetroffen. Sie saßen in der Lufthansa-Lounge und tranken Kaffee, der zu lange gestanden hatte.

Es war offensichtlich, dass Kuhn sich langweilte.

»Wussten Sie, dass O’Connor mal mit der Nordirischen Befreiungsarmee sympathisiert hat?«

»Nein.« Augenblick, Kika, dachte sie. Das ist wirklich interessant.

Sie legte die Zeitschrift beiseite und fragte: »Wann war das?«

»Bevor er zu Ruhm und Ehren gelangte. Hat’s mir erzählt, als wir zusammen in Cork waren, letztes Jahr.« Kuhn setzte ein wichtiges Gesicht auf. »Ist das nicht unglaublich? Jemand, der im Stande ist, das Licht abzubremsen, entpuppt sich als Bombenheini.«

»Sehr differenziert ausgedrückt«, spottete Wagner. »Bringen Sie da nicht einiges durcheinander?«

Kuhn sah Wagner an, als erblicke er sie zum ersten Mal.

»Ich wollte nicht sagen, dass er selbst… Mein Gott, Kika! Er hat Verschiedenes von sich gegeben auf dem Trinity, was so in die Richtung ging, Nordirland den Iren und den Engländern was aufs Maul. Bullshit. Aber sie hätten ihn dafür beinahe vom College geschmissen. Sein Vater hat die Notbremse gezogen. Das war’s. Wir haben alle mal mit irgendwas Bescheuertem sympathisiert.«

»Ich nicht.«

»Sie sind zu jung.« Kuhn lehnte sich zurück und schaffte es, seinen Körper so unglücklich in die Polster rutschen zu lassen, dass sein Hemd den Kontakt zum Hosenbund verlor. Zwei Fingerbreit behaarten Bauchnabels wurden sichtbar. »Ihr seid überhaupt eine ganz arme Generation. Eure Eltern hören dieselbe Musik wie ihr, tragen dieselben Klamotten, und sympathisieren dürft ihr nur noch mit Benetton oder Kookai. Wir hatten wenigstens noch jemanden, den wir richtig hassen konnten.«

»Ja, toll!«, sagte Wagner. »Darum seid ihr auch alle in gutbürgerlichen Berufen gelandet. Mir ist Kookai schon lieber als der prinzipienlose Schwachsinn eurer viel gerühmten Achtundsechziger.«

»Na, na!«

»Doch, das klang alles ganz klasse! Bloß dass ihr nichts daraus gemacht habt. Oder sehe ich das falsch?«

Kuhn schlürfte seinen Kaffee. Er wirkte beleidigt.

»Jedenfalls haben wir den Sinn des Lebens nicht ausschließlich darin gesehen, im Chanel-Kostümchen rumzulaufen.«

Kuhn geisterte im Chanel-Kostüm durch Wagners Vorstellungsvermögen und entlockte ihr ein Glucksen.

»Wollen wir uns über Mode unterhalten?«, fragte sie. Als Kuhn nicht antwortete, widmete sie sich wieder ihrer Zeitschrift, halb verärgert, halb belustigt über seinen unerschöpflichen Fundus an Pauschalismen. In einer Besenkammer ihres Verstandes wusste sie, dass er so Unrecht nicht hatte. Aber es missfiel ihr, Kuhn in irgendetwas recht zu geben. Zumindest nicht, solange er es vorzog, Platitüden zu verbreiten.

Was ich selbst auch ganz gern tue, dachte sie plötzlich schuldbewusst. Das mit den Achtundsechzigern hätte ich mir eigentlich sparen können.

Die Tür zur Lounge öffnete sich geräuschlos, und eine Frau in Lufthansa-Uniform trat ein. Sie war auffallend hübsch, aber es spielte keine Rolle. Sie hätte Miss World sein können. Jedes Interesse an ihr musste zwangsläufig erlahmen angesichts der Erscheinung, die ihr folgte, ein fast leeres Glas in der Hand, einen Aktenkoffer unter den Arm geklemmt und ein seltsam konspiratives Lächeln auf den Lippen.

Im Moment, da Kika Wagner Liam O’Connor erblickte, wusste sie, dass er der attraktivste Mann war, den sie in ihrem ganzen achtundzwanzigjährigen Leben gesehen hatte.

Und es machte sie nicht gerade glücklich.

Fotos von O’Connor kannte sie zur Genüge. Dementsprechend war sie nicht überrascht, dass er gut aussah, sondern, wie gut er aussah. Kein Bild konnte diesen Eindruck vermitteln, keine Videoaufnahme. Liam O’Connor betrat den Raum und veränderte seine molekulare Beschaffenheit. Kraftfelder schienen von ihm auszugehen, die vielleicht keine Elektronen aus ihrem Verbund herauszureißen vermochten wie die Photonenstöße in seinen Experimenten, aber durchaus geschaffen waren, festgefügte Persönlichkeiten in Konglomerate hilflos trudelnder Gemütspartikel zu verwandeln. Von Marlon Brando hieß es, er habe als junger Mann durch sein bloßes Erscheinen eine in vollem Gange befindliche Party schlagartig verstummen lassen, und eine ähnliche Magie schien auch O’Connor eigen zu sein. Nur dass der irische Doktor einen Kopf größer war als der Schauspieler.

Die Stewardess sah sich um und erspähte Kuhn, der augenblicklich hochfuhr. O’Connor verlor im selben Moment sein Lächeln, beäugte erst ihn und dann misstrauisch sein Glas, als könne Kuhn etwas dafür, dass es fast leer war. Er musste den Lektor erkannt haben, schließlich traf er ihn regelmäßig seit einer Reihe von Jahren und hatte ihn erst vor achtundvierzig Stunden in Hamburg verlassen. Dennoch legte er ein ostentatives Desinteresse an den Tag. Er warf den Aktenkoffer auf den nächststehenden Sessel, fuhr sich durch das silbergraue Haar, das in seltsamem Kontrast zu seinen jugendlichen Zügen stand, und begann, irgendeine Melodie zu summen.

»Liam!«

Kuhn flitzte auf den Physiker zu, wollte seine Rechte ergreifen und stockte. O’Connor tat, als finde er aus fernen Welten zurück in die bittere Realität, starrte Kuhn an und drückte ihm das Glas in die Hand.

»Voll machen«, sagte er.

»Ihr Willkommensdrink dürfte an der Bar stehen«, bemerkte die Stewardess.

Sie scheint der Magie nicht verfallen zu sein, stellte Wagner fest, während sie hinzutrat. Eher wirkte sie belustigt, wie eine Mutter, deren Filius in kurzen Hosen Erwachsener spielt.

Das also war der Mann, auf den sie aufzupassen hatte.

»Wagner«, sagte Wagner zu O’Connor.

Sie hatte sich unzählige Male ihren Namen sagen hören. Warum kam es ihr heute so vor, als habe ein Kakadu durch sie gesprochen?

Er sah sie an, offenbar verwirrt, seine Aufmerksamkeit plötzlich zwischen ihr, Kuhn und der Stewardess dreiteilen zu müssen. Dann gewann sein Blick an Klarheit, und Wagner fühlte sich von seinen Augen aufgesogen und zu einer Schmonzette verarbeitet.

Wofür, dachte sie zornig, machen wir uns eigentlich die Mühe der Emanzipation, wenn uns so was immer wieder passieren muss?

Die meisten Menschen sahen einander in die Augen, um Aufmerksamkeit und Interesse zu bekunden. Es geschah eher nebenbei, man nahm den anderen als ganze Person wahr. Was von Pupille zu Pupille geschah, folgte vornehmlich einer Funktion, nämlich Kommunikation zu ermöglichen und zu vertiefen. Wesentlich mehr tat sich selten und dann erst im Zuge einer intensiveren Annäherung.