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Mund verboten und ansonsten zugehört.

Opfer und Täter entwickelten oft merkwürdige Abhängigkeiten. Eine Abhängigkeit war es sicher nicht gewesen, aber vielleicht hatte er ihr zu denken gegeben. Durch eine Äußerung, eine Geste.

Eine Warnung.

Er hatte sie gewarnt.

Ich habe dir gesagt, dass sie den Preis für dich ausgehandelt haben. Du wolltest nicht hören.

War Kuhn am Ende von tieferen Einsichten geprägt gewesen als sie alle zusammen?

Dort angekommen, begannen sich Wagners Gedanken für gewöhnlich im Kreise zu drehen, und sie dachte an etwas anderes. O’Connor, der nichts zu tun hatte, war begierig, Köln kennen zu lernen. Seine Lesereise war geplatzt, offiziell wegen Erkrankung. Dafür, dass man ihn als Experten in der Stadt festhielt, zeigte die Polizei erstaunlich wenig Interesse an ihm. Wagner schleppte ihn durch Museen, Galerien und Clubs. Sie genoss es, sich nach den Jahren der Kasteiung wieder auf eine Stadt einzulassen, die ihre war und in der es Neues zu entdecken gab und keine abgestandenen Ängste und Irrtümer. Der Gipfel überstrahlte das Kölner Selbstverständnis wie ein Glorienschein, während den Bürgern allmählich das Interesse an dem ganzen Theater abhanden kam. Der Himmel über ihnen hallte wider vom Geknatter der Hubschrauber. Die Allgegenwart der Polizei und die Absperrungen ängstigten und beruhigten sie abwechselnd, konfrontierten sie immer wieder mit dem, was sie durchgemacht hatte – doch ganz allmählich, kaum dass es ihr auffiel, fand sie zu ihrem inneren Gleichgewicht zurück.

Sie lebte. Sie hatte allen Grund, dankbar zu sein.

Merkwürdigerweise schlief sie ausgezeichnet. Vielleicht lag es an O’Connor. Der Einfachheit halber war sie in seine Suite gezogen. Auch Wagner hatte man dazu verdonnert, die Stadt fürs Erste nicht zu verlassen, ebenso wie Silberman, der argwöhnte, nicht nur aufgrund seiner Verletzung von seinen Pflichten als Korrespondent entbunden worden zu sein. Sie hatten sich angewöhnt, zusammen zu frühstücken, abwechselnd im Hyatt und im Maritim, wo sie andere Gesprächsgegenstände zu finden suchten als das Attentat und die Stunde in der Halle. Irgendwie schien jeder von ihnen bestrebt, das Thema zu ignorieren wie einen unliebsamen Zeitgenossen, den man einfach so lange nicht beachtet, bis er vom Tisch aufsteht und geht.

Kuhns Leichnam war zügig nach Hamburg überführt worden. Der Befund hatte einen hypovolämischen Schock ergeben. Kuhn war an einem Milzriss gestorben, innerlich verblutet. Einzig wenn Wagner darüber nachgrübelte, wie Gruschkow den Lektor zusammengetreten haben mochte, entstand wirkliches Grauen vor ihrem geistigen Auge, und sie lenkte sich mit irgendetwas ab, bis die Bilder wichen.

An diesem Morgen war Silberman aufgebracht gewesen. Er hatte wütend in seinen Kaffee geblasen und seinem Unmut Luft gemacht.

»Ich soll Stillschweigen bewahren! Maul halten. Das trichtern sie mir jetzt seit Donnerstagabend ein, ich kann es nachbeten, aber gestern sind sie massiv geworden.«

»Wer sind sie? Die Polizei?«

»Nein. Doch, auch die, aber ich hatte Besuch von unseren eigenen Leuten. Völlig verrückt. Sie haben mir nahe gelegt, die Angelegenheit als nicht geschehen zu betrachten!«

»Was soll das heißen? Sie sollen nicht darüber reden?«

»Ich soll gar nicht dabei gewesen sein.«

»Unverständlich.«

»Ich versteh’s ja selbst nicht. Ich glaube, Sie würden mich am liebsten in meinem Zimmer einschließen, damit ich bloß mit niemandem rede.«

»Na schön, gewissermaßen haben sie ja Recht. Sie wollen für die

Dauer des Gipfels eben keine schlechte Presse. Vielleicht möchten sie auch die Ermittlungen nicht gefährden und keinen Wirbel machen. Uns haben sie das Gleiche ans Herz gelegt.«

»Was? Ihr Gehirn waschen zu lassen?«

»Verschwiegenheit. Die Polizei in diesem Fall.« O’Connor hatte gelacht und achselzuckend Fatalismus bekundet. »Und das, wo ich verschwiegene Leute auf den Tod nicht ausstehen kann. Man findet nie heraus, ob sie interessant sind oder einfach dämlich.«

»Es hat nichts in den Zeitungen gestanden. Kein Wort von einem Attentat, nur was von verschärften Pressekontrollen. Es war alles voller Journalisten auf dem Vorfeld, die müssen was gemerkt haben. Clinton kam zu spät, verschwand wieder im Flieger, kam erneut raus, das ist doch nicht normal. Aber nichts! Nichts!«

»Doch. Es stand zu lesen, er hätte sich entschuldigt. Weltpolitisches Allerlei, das ihn an Bord festgehalten hatte, und so weiter.«

»Ich weiß nicht.«

»Ach, Aaron, die machen auch nur ihren Job. Warten Sie bis nach dem Gipfel. Wahrscheinlich ist der erste Leitartikel Ihrer.«

Silberman war nicht überzeugt gewesen.

Aber mehr gab es darüber nicht zu sagen, also hatten sie das Thema gewechselt und sich über Wirtschaftshilfe und Schuldenerlasse für die Dritte Welt unterhalten. Irgendwie war Köln politisiert. Ein großes Theater, an dem Politik gegeben wurde, und man diskutierte das Programm.

Wagner betrachtete sich prüfend in dem großen, frei stehenden Spiegel neben dem Bett.

»Ich find’s nett, dass er uns besuchen kommt«, sagte sie, während sie die Knöpfe ihrer Levi’s schloss.

»Ja, ich komischerweise auch«, rief O’Connor aus dem Bad. »Dabei konnte ich ihn anfangs nicht besonders leiden.«

»Ich glaube schon, dass du ihn leiden konntest. Du konntest lediglich nicht leiden, dass er nicht gleich vor dir in die Knie gegangen ist.«

Sie fuhr sich mit den Fingern durch das lange, honigfarbene Haar und überlegte, ob sie es zum Pferdeschwanz binden sollte. Dann beschloss sie, es zu lassen, wie es war. Lang und liebevoll in Unordnung gebracht. Neuerdings gefiel es ihr so besser als die glatt gekämmte, kontrollierte Variante.

»Wenn du so weitermachst, werde ich ihn noch richtig lieb gewinnen«, spottete O’Connor. Er kam aus dem Bad. Immer noch kündeten kleinere Verbände und Pflaster an den Händen von seinem Sturz durch das Glasdach des Terminals, aber es störte das Gesamtbild nicht. Er trug sandfarbene Jeans und ein schwarzes Poloshirt und sah blendend aus. Sie gingen über den Flur zum Aufzug und fuhren nach unten in die Lobby.

Die mehrstöckige Halle des Maritim unter dem gigantischen Glasgiebeldach war angelegt wie eine Straße, mit Geschäften, Restaurants und Cafes. Im hinteren Teil des Basements lag ein Bistro. Die Tische nahe der gläsernen Rückfront boten einen schönen Blick auf den Rhein.

Lavallier erhob sich, als er sie kommen sah.

»Sie sehen beide sehr gut aus«, sagte er.

»Danke«, sagte O’Connor.

Sie schüttelten einander die Hände und nahmen Platz.

»Sie wissen ja, wir haben Urlaub«, sagte Wagner. »Wenn auch keinen ganz freiwilligen.«

»Ja, ich weiß.« Lavallier lächelte. »Genießen Sie das schöne Wetter. Wir haben nicht so viel davon in Köln. Oh, bevor ich es vergesse…« Er griff in eine Tüte neben seinem Stuhl und förderte eine Flasche zutage. »Man sagte mir, dass Sie so was mögen, Doktor. Ich hoffe, es entspricht einigermaßen dem Niveau, auf dem Sie sich zu ruinieren gedenken.«