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Demgegenüber blicken die USA auf eine wesentlich jüngere Geschichte zurück. Die Weltkriege haben hier nicht stattgefunden, eine abgeklärte Rückschau auf die eigene Geschichte ebenso wenig. Die hausgemachten Probleme der Gründerzeit dauern an. Die Rassenproblematik, die unrühmliche Geschichte der Indianerkriege, die Religionsfrage, all das. In Europa haben die kulturellen Entwicklungen gemächlich stattgefunden, in den Staaten sind die Menschen aus einer Zeit archaischer Moralvorstellungen und erzreligiöser Auffassungen, provinziellen Wildwestdenkens und gesellschaftlicher Primitivität in ein High-Tech-Universum katapultiert worden – und das innerhalb kürzester Zeit, in nur zwei Jahrhunderten.

Amerika hat seine Entwicklung zwar vollzogen, aber längst nicht verarbeitet. Es brodelt, als habe die Besiedelung gerade erst stattgefunden. Und es brodelt umso mehr, als die Amerikaner mit aller Macht versuchen, es anders darzustellen, weil sie so gern auf eine lange Geschichte zurückblicken würden, die sie nicht haben (darum auch das große Interesse Amerikas an europäischer Historie und Kultur). Die USA sind zerrissen zwischen extremen Auffassungen, die Geschichte der Vereinigten Staaten geprägt von moralischer und physischer Gewalt. Das amerikanische System krankt an seiner eigenen Diffusität. Innerhalb einer machtvollen Union, die sich als Symbol der Einigkeit versteht wie keine zweite in der Welt, stehen einander fünfzig Staaten im Wege, deren Identitätsverständnis zum Teil extrem differiert. Als Folge gehen weltumspannende Interessen und globale Allmacht der USA einher mit bauerndummer Ignoranz gegenüber allem, was hinter dem nächsten Maisfeld liegt. Nirgendwo sonst in der Welt sind die Widersprüche so groß.

Dementsprechend hat Amerika keine nationale Identität wie etwa Deutschland, Frankreich oder England. Der Patriotismus mancher Hollywood-Produktion kann darüber nicht hinwegtäuschen. Er dient vielmehr dazu, den Mangel an innerem Gleichtakt zu kompensieren. De facto ist die amerikanische Gesellschaft ein lockeres Konglomerat aus Interessen und Werteauffassungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie setzt sich zusammen aus wenigen, die viel, und vielen, die wenig haben, aus Liberalen und Demokraten auf der einen und Republikanern auf der anderen Seite, deren radikale Vertreter das Rad der Geschichte notfalls mit allen Mitteln zurückdrehen möchten.

Natürlich sind die USA auch großartig in vielerlei Hinsicht. Tatsächlich gibt es dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das dem Einzelnen unvorstellbare Offerten zur Entfaltung seiner Individualität bietet. Dieses Amerika ist eine einzige Geschichte der Freiheiten und Erfolge – das andere hingegen eines, das im Justizvollzug täglich die Menschenrechte verletzt, in dem Minderjährige und Geisteskranke hingerichtet werden, dreißig Millionen Menschen private Sicherheitsdienste in Anspruch nehmen müssen und eineinhalb Millionen Menschen hinter Gittern vegetieren. Ein Land, das für Gefängnisse mehr ausgibt als für Hochschulen, und in dem der Ku-Klux-Klan eine beispiellose Renaissance erlebt.

Und – zugegeben – in kaum einem anderen Teil der Welt hat es derart überzeugende Aufrufe für Toleranz und Gleichheit gegeben wie in Amerika, hat der Fortschritt eine solche Chance erhalten. Umso mehr aber sind die Reaktionäre zurückgewichen in die Vergangenheit der pilgrim fathers, der ultraprüden Sexualneurotiker und religiös motivierten Rassisten. Selbsternannte Christen ohne jede Nächstenliebe, die ihren Glauben notfalls mit Gewalt predigen, gewinnen Oberwasser. Dumpfe Moralwächter, zu allem bereit, sehnen mittelalterliche Zustände herbei. Das freieste Land der Welt steht hinter dem islamischen Fundamentalismus in nichts zurück, wenn man einen Blick auf die erzkonservative Szene wirft.

In diesem Land kann kein Präsident regieren, der es jedem irgendwie recht macht. Bis heute wurde jeder amerikanische Präsident Opfer von Feindseligkeit, Spott und Verachtung, weil es in den Staaten unmöglich ist, eine Richtung zu vertreten, die jedem akzeptabel scheint. Egal, was der Präsident sagt, immer hat er einen Teil des Volkes gegen sich. Lincoln, McKinley und Kennedy haben das nicht überlebt, Roosevelt und Reagan fast nicht, selbst Gerald Ford sollte umgebracht werden, und der war nun wirklich ein harmloser Zeitgenosse.

Und plötzlich kam Bill Clinton. Er kam als Hoffnungsträger eines neuen und weltoffeneren Amerika. Weniger prüde als seine Vorgänger, friedensorientiert, auf Abrüstung und Verständigung bedacht, randgruppenfreundlich, idealistisch, jung. Er brachte Sinnlichkeit und Spaß mit in die Politik. Der Wahlkampf wurde auf dem Saxophon geführt. Clinton kam und brachte die Welt der Reaktionäre in Unordnung. Eine mächtige Welt. Eine Lobby.

Er legte sich mit der Rüstung an, und die Rüstung ist konservativ, sie kann es nur sein. Vor allem aber repräsentiert sie in den USA eine Säule, auf der ein Großteil des amerikanischen Wohlstands ruht. Die amerikanischen Steuerzahler haben sechs Billionen Dollar in die atomare Aufrüstung gesteckt. Fast zwanzig Billionen Dollar hat das Gleichgewicht des Schreckens bis heute insgesamt gekostet – verständlich, dass der Kalte Krieg der Rüstungsindustrie ans Herz gewachsen ist. Aber Clinton wollte den Kalten Krieg beenden.

Auch die Waffenlobby tobte. Wie konnte Clinton den öffentlichen Verkauf von Handfeuerwaffen verbieten wollen? Opa die harmlose kleine Maschinenpistole abnehmen, so dass die Kinder nicht mehr die pädagogisch wertvolle Erfahrung des Schießens machten, wo doch alles voller Nigger, Juden, Kommunisten und Pazifisten war? Dieser Präsident musste ja wohl selber Kommunist sein. Oder Pazifist!

Bis jetzt haben wir einen Blick auf die offizielle, die legale Fraktion geworfen, die schlicht und einfach anderer Auffassung ist als die demokratische. Diese Gegner Clintons sind Personen des öffentlichen Lebens, die ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen formulieren. Ihr Anspruch gründet – ob sie es wollen oder nicht – auf eine breite, extremistische Bewegung, die weiter am rechten Rand steht, als man es sich in Europa vorstellen könnte. Da sind die gewaltbereiten Suprematisten, die aufwieglerischen, antisemitischen und rassistischen Christian Patriots, die rund achthundert regierungsfeindlichen Milizen, die jede Waffenkontrollgesetzgebung ablehnen, Verschwörungstheorien verbreiten und Clinton verdächtigen, die Amerikaner entwaffnen zu wollen, um die Russen und die Chinesen ins Land zu lassen, die ganze rechtsextreme Szene. Ein Blick ins Internet reicht. Die Michigan Militia zum Beispiel erzählt dort, was Clinton vorhat. Mit kommunistischen Horden, sowjetischer Ausrüstung und Latinobanden die Opposition zu zerschmettern. Dagegen proben sie den Aufstand. Ihre Theorien sind mehr als lächerlich, dennoch haben sie zwölftausend Mitglieder, und sie können auf beachtliche Summen zurückgreifen! Die rechtsextreme Szene wird auf zwölf Millionen Mitglieder geschätzt, und sie sind in der Gesellschaft ähnlich stark verankert wie Le Pen oder Schirinowski in Europa, mehr als die Skinheads in Deutschland.

Das alles bezieht das republikanische Amerika achselzuckend in seinen Sittenkodex mit ein, aber wegen einer schmierigen kleinen Nummer im Oval Office nageln sie einen Präsidenten ans Kreuz, der zumindest versucht hat, den Missständen abzuhelfen. Das ist nur möglich in einem Land, in dem sich gesellschaftliche Strömungen mit rasender Geschwindigkeit auseinander entwickelt haben, und das keine Zeit hatte, zu einer nationalen Identität zu finden. Einem Land, in dem die Oberfläche gemäßigt erscheint, während darunter die Konflikte schlimmer aufbrechen denn je, und ausgerechnet die Tugendwächter jede Moral und Ethik mit Füßen treten, weil sie befürchten, Opfer der Modernisierung und eines neuen Denkens zu werden.