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Atemloses Schweigen.

Er stockte.

Was immer er noch zu sagen beabsichtigt hatte, schien sich irgendwo in den Weiten seines Geistes verloren zu haben, ein Gedankenteilchen, kollidiert mit einem Antigedankenteilchen, gegenseitiger Exodus in einem grellen Blitz des Vergessens, gefolgt von bleierner Schwere. Sein Kopf sackte herunter auf die Brust. Einen Augenblick stand O’Connor da, als trage er alles Leid der Welt auf seinen Schultern.

Dann zuckte er die Achseln und schlurfte zur Tür.

»Okay«, sagte er zu seiner Krawatte. »Fahren wir.«

1998. 05. DEZEMBER. PIEMONT. LA MORRA

Ricardo stützte das Kinn in die Hände und betrachtete Jana. Sein Blick hatte etwas Entrücktes, als ordne er im Geiste Zahlenkolonnen zu Bilanzen.

»Wenn Sie das machen«, sagte er, »machen Sie nichts anderes mehr.«

Jana nickte.

Ricardos Aussage traf in doppelter Weise zu. Entweder sie erledigte den Auftrag, dann wäre es ihr definitiv letzter und der Ausstieg aus dem Geschäft. Nach einer solchen Operation weiterzumachen, käme einem glatten Selbstmord gleich. Wo immer ihr Name fiele, würde sich die ganze Welt darauf stürzen. Man würde Jagd auf sie machen und sie mit fingierten Anfragen ködern, bis sie irgendwann in die Falle ging. Ebenso wäre es ihr letzter Auftrag, sollte sie ihn vermasseln. Auch dann würde sie nichts anderes mehr machen, weil jemand, der tot ist, eben nichts mehr macht.

Wie immer es ausging, sie müsste Sonja Cosic, Laura Firidolfi und ein rundes Dutzend weiterer Identitäten noch am selben Tag zu Grabe tragen. Vor allem Jana durfte keinen Atemzug länger fortbestehen. Es wäre von einer Sekunde auf die andere so, als hätte es eine Spezialistin dieses Namens niemals gegeben.

Sie würde aufhören zu existieren.

Um Laura und den ganzen Rest war es ihr nicht schade. Bedauerlich wäre nur, dass auch Sonja dem Massaker an ihren diversen Alter Egos zum Opfer fiele. Sie war die Einzige, die eine Kindheit und Erinnerungen hatte an die Zeit, als die Phantasie noch über die

Wirklichkeit gebot. Sonja Cosic – der Rest von Unschuld, den Jana sich bewahrt zu haben glaubte. Inzwischen war sie skeptisch. Wie etwas Mumifiziertes in einer Schachtel, das man von Zeit zu Zeit hervorholt und mit einer Mischung aus Wehmut und Abscheu betrachtet, wohl wissend, dass es tot ist, erschien ihr die Unschuld dieser Sonja Cosic, die in der Krajina über Blumenwiesen gelaufen und ihrem Großvater in die Arme geflogen war, wenn er sie zum Speckessen hereinrief. Sonja mochte Jana sein, aber Jana hatte das Recht verwirkt, sich auf Sonja zu berufen.

Vielleicht war es gut, wenn Sonjas Kindergesicht endlich verschwinden würde, um nicht länger von der Realität herabgewürdigt zu werden.

Sollte sie zusagen?

»Als Chef der Finanzen plädiere ich natürlich für ein Ja«, bemerkte Ricardo, als habe er ihre Gedanken erraten. »Erstmals hätten wir den seltenen und bemerkenswerten Fall, dass wir Ihre ganze Person in eine andere Währung umtauschen müssten. Irgendwie amüsant, finden Sie nicht? Möglicherweise lernen Sie Schwedisch oder Innuit. Wenn wir Neuronet liquidieren, gäbe es noch ein paar Millionen obendrauf, es würde sich also lohnen. Natürlich könnten Sie nicht zurück nach Serbien gehen. Auch in Italien zu bleiben, würde ich für unklug halten. Aber es gibt schöne Ecken in England. Irland ist ganz wunderbar, wenn man mit ein paar Kübeln Regen leben kann. Der französische und spanische Norden hat schon ganz anderen Unterschlupf gewährt, und man kann hervorragend essen.«

»Das können wir später entscheiden«, sagte Jana.

Ricardo zuckte die Achseln.

»Es ist Ihr Leben. Nach Abzug aller zu erwartenden Kosten, die eine Löschung von Jana aus der Weltgeschichte und die Auferstehung einer bis dato nicht näher spezifizierten Person mit sich brächten, verblieben Ihnen schätzungsweise dreißig Millionen. Ich rechne jetzt in Dollar. Sie könnten danach aus Spaß als Apfelsinenpflückerin in Marokko arbeiten oder als Supermarktkassiererin auf Hawaii oder am besten gar nichts tun und teure Weine trinken, aber eine Waffe werden Sie nicht mal mehr in einem Spielsalon berühren. Nicht öffentlich, meine ich.«

»Nette Lektion. Danke.«

»Wir bereiten die Auflösung der Neuronet so vor, dass das Unternehmen im Moment, da Sie Ihren Auftrag erledigen, sämtliche Mittel verflüssigt, alle Schulden bezahlt und seinen Mitarbeitern am folgenden Tag ordnungsgemäß kündigt«, fuhr Ricardo ungerührt fort. »Die zu beziehenden Restgehälter und Abfindungen werden aus einem Fonds beglichen, den wir beizeiten installieren. Gruschkow bildet die Ausnahme, wie ich die Sache sehe, müssen wir auch ihm ein neues Leben finanzieren.«

Jana nickte. Maxim Gruschkow war der Chefprogrammierer von Neuronet und zugleich Janas engster Vertrauter, wenn es um die Planung und technische Durchführung ihrer Operationen ging.

»Mit dem Ende Janas endet übrigens auch dieses Haus«, sagte Ricardo. »Leider wird es abbrennen. Kurzschluss. Nichts wird übrig bleiben. Persönlich hätte ich Sie gern beerbt, aber wir wollen ja nicht sentimental werden.« Er machte eine Pause und sah sie über den Rand seiner Brille an. »Auch Silvio Ricardo wird einen neuen Namen und Aufenthaltsort brauchen. Wir stehen uns zu nahe. Ich würde mich ungern schmerzhaften Fragen aussetzen, die ich nicht beantworten kann.«

»Machen Sie sich keine Sorgen.«

Jana durchmaß das Büro mit langen Schritten. In Momenten größter Anspannung trieb es sie durch den Raum wie ein Raubtier, das seinen Käfig abschreitet. Sie überlegte. Ricardo hatte gut gearbeitet in Triora. Sie war nun im Besitz einiger Fotografien, die Mirko zeigten, immer allein. Ricardo hatte es vermieden, sie mit aufs Bild gelangen zu lassen. Außerdem wusste sie, dass Mirko von Turin zuerst nach Köln geflogen war, dort übernachtet und am nächsten Morgen eine Maschine nach Wien bestiegen hatte. Ab hier hatte sie die Beschattung ausgesetzt. Sie wollte nicht ernsthaft die vereinbarten Regeln brechen, nur ein bisschen schlauer sein, als man sie ließ.

»Wie ich es sehe, könnte der Auftrag direkt aus der Schaltzentrale der serbischen Regierung kommen«, sagte sie. »Ob Milosevic selbst so weit gehen würde, wage ich zu bezweifeln. Aber jemand anderer dort könnte auf die Idee gekommen sein, durchaus. Mirko hat genau das gesagt und anschließend versucht, den Kreis zu erweitern, als er die Russen mit ins Spiel brachte.«

»Das musste er wohl«, meinte Ricardo. »Aber es scheint mir ziemlich konstruiert. Die meisten Moskauer Regierungsbeamten sind mit den größeren kriminellen Vereinigungen des Landes verbunden, und da geht’s um Geld. Gut, Russland ist der Kernmarkt für Auftragsmorde, aber politisch halten sie sich eher raus. Die russische Mafia würde zu viel riskieren. Die verdienen an Tschetschenien, damit flicken sie dem Bären das Rückgrat, und alle sind wieder stolz. Alles, was die internationale Stabilität gefährdet, betrachten selbst die Kommunisten mit Skepsis.«

»Kommen Sie. Es ist nicht gerade eine sensationelle Neuigkeit, dass russische Offiziere und Ex-KGB-Agenten versuchen, Atomsprengköpfe zu verscherbeln.«

»Ich weiß, die Ukrainer. Das waren deutsche Geschäftsmänner, die den Deal eingefädelt haben.«

»Die korrupten Militärs verkaufen weltweit an den Meistbietenden. Und das sind Russen. Ich meine, wer dem Iran die Lieferung spaltbaren Materials zusagt, wird auch vor Königsmord nicht zurückschrecken.«

»Die Frage wäre immer, wer damit was erreicht.«

»Der Westen würde in seine Schranken verwiesen«, sagte Jana mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. »Er hätte endlich mal wieder mit sich selbst zu tun.«

Ricardo schwieg eine Weile.

»Bewundern Sie Milosevic immer noch?«, fragte er schließlich.

Jana hielt inne. Ihr Blick suchte in dem komfortablen Wohnzimmer mit den teuren italienischen Möbeln nach einem Halt. Dann trat sie zum Fenster und sah hinaus auf die Hügel der Langhe.