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Eine Eidechse flitzte den warmen Stein entlang, passierte die Schattengrenze und näherte sich seinen Fingern. Er hoffte, sie würde darüberlaufen. Als er klein gewesen war, hatte er oft stundenlang darauf gewartet, und einmal war es passiert. Einmal nur, aber seine Geduld hatte sich ausgezahlt.

Der alte Mann seufzte. Wie geduldig würde er diesmal sein müssen? Wie viele Jahre waren noch entbehrlich, um sich in Geduld zu üben?

Er senkte den Blick zu den Flecken auf seinen Handrücken und erschauderte.

Ich bin gar nicht so alt, dachte er. Nicht mal sechzig. Man muss so viele Hände ergreifen, so viele wollen geführt werden. Sie graben dir die Fingernägel ins Fleisch. Sie reißen Stücke aus dir heraus, aus deiner Liebe zu diesem Land, und du gibst mehr, als du bist. Sie nennen dich Führer und teilen dich unter sich auf, wie soll einer da nicht alt aussehen? Und doch geben sie dir zugleich die Kraft, die du brauchst, ihre Blicke brennen sie dir ein, wenn du zu ihnen sprichst, und du weißt, du magst sterben, aber deine Ideen leben in ihnen weiter! Alter ist nicht wichtig. Eine Illusion. Die Ideen zählen, nichts sonst.

Sein Blick suchte die Eidechse. Sie zuckte zurück und verschwand.

Fast ärgerlich registrierte er, dass sich das Motorengeräusch nun vollends des Friedens ringsum bemächtigt hatte und sein Urheber ins Blickfeld geriet. Der Wagen rumpelte die Böschung hinauf und kam unterhalb der Treppe zum Stehen. Einige Sekunden rasselte der Diesel weiter, dann erstarb der Lärm der Maschine und überließ das Land wieder den kleinen und älteren Lauten, auf die der Alte seit dem Morgengrauen gelauscht hatte.

Der Neuankömmling war Anfang vierzig, hochgewachsen, trug borstig geschnittenes Haar, das an den Schläfen zu ergrauen begann, und eine schwarze Lederjacke über verblichenen Jeans. Mit federnden Schritten kam er die Stufen herauf. Der alte Mann drehte ihm den Kopf zu und musterte das ebenmäßig geschnittene Gesicht mit den grünen Augen. Offen, befand er. Beinahe freundlich, aber ohne jede Wärme, ohne Humor. Er wusste sofort, dass der andere miserable Witze erzählen würde, falls er es überhaupt jemals tat.

»Wie soll ich Sie ansprechen?«, fragte der Alte.

»Mirko«, sagte der Mann und streckte die Hand aus. Der alte Mann starrte eine Sekunde darauf, nahm sie dann und drückte sie.

»Einfach Mirko?«

»Was heißt hier einfach?« Der andere grinste. »Das sind fünf Buchstaben, und sie haben mir verschiedene Male das Leben gerettet. Ich liebe diesen Namen.«

Der Alte betrachtete ihn.

»Sie heißen Karel Zeman Drakovic«, sagte er nüchtern. »Sie wurden geboren 1956 in…«

»Novi Pazar.« Mirko winkte ungeduldig ab. »Und so weiter und so fort. Schön, Sie kennen meine Daten. Ich kenne sie ebenfalls. Wollen wir über was Wichtiges reden?«

Der alte Mann dachte nach.

»Dieses Land ist etwas Wichtiges«, sagte er nach einer kurzen Weile des Schweigens. »Können Sie das verstehen?«

»Natürlich.«

»Nein, können Sie nicht.« Der Alte hob einen Zeigefinger. »Wem es gehört, ist wichtig. Das ist überhaupt das Wichtigste, wem was gehört! Kriege, Konflikte, Streitereien, was könnten wir uns alles ersparen, wenn sich nicht ständig jeder bemüßigt fühlte, durch anderer Leute Wohnzimmer zu marschieren!«

Er reckte das Kinn noch weiter vor. »Wissen Sie, was ich sehe, wenn ich auf dieses Land hinausblicke, Mirko Karel Zeman Drakovíc? Ich sehe ein Schild mit der Aufschrift ›Reserviert‹. Und wissen Sie auch, für wen? Für unser Volk, für unsere Leute! Das alles da draußen wurde für uns gemacht. Gott ehrt die Seinen, habe ich Recht? Nun gut, ich bin großzügig und tolerant, also sage ich, jeder mag das Recht für sich in Anspruch nehmen, sein Land zu lieben, aber seines, wohlgemerkt, sein Land! Nicht das Land anderer!«

Mirko zuckte die Achseln.

»Das klingt doch ganz einfach und natürlich, oder?«, fuhr der Alte fort. »Ich meine, was tun Sie, wenn Sie ein Haus bauen? Sie leben da mit Ihrer Frau und Ihren Kindern, also was machen Sie? Sie schützen es! Und wenn Sie Fremde darin vorfinden, die sich eingenistet haben, Ihnen den Kühlschrank leer fressen, die Füße auf Ihren Tisch legen und in Ihre sauberen Polster furzen, na, dann schmeißen Sie das Pack eben raus! Kein Richter auf der Welt wird Ihnen das verübeln. Aber in diesem Land soll plötzlich jeder mit am Tisch sitzen dürfen, der sich Minderheit nennt und irgendwas von ethnischer Vielfalt daherfaselt, und wenn die Eigentümer ihr gottgegebenes Recht anmelden, ihn hinauszujagen, werden sie noch von den eigenen Leuten verdroschen, und das nennt sich dann liberal!«

Mirko wandte ihm den Blick zu.

»Wann hätten Sie sich je verdreschen lassen«, sagte er.

»Eben! Nebenbei, was ist mit Ihnen? Lieben Sie dieses Land?«

»Ich liebe es, über meinen Auftrag zu sprechen.«

»Ihre Kontaktleute meinten, Sie seien schon so etwas wie ein Patriot. Trotz Ihres…«

Mirko lächelte höflich.

»Trotz meines Berufs? Sagen wir mal so – ich sehe zu, dass ich mir meinen Patriotismus leisten kann. Im Übrigen, was mir persönlich wichtig ist, dafür kann sich kein anderer was kaufen.«

»Sie müssen doch eine Meinung haben.«

»Bei allem Respekt, hatten Sie eine, als Sie zum Nationalismus konvertierten?«

Der alte Mann lächelte dünn zurück und trat durch das Portal der

Klosterkirche ins Innere.

»Das sehen Sie falsch. Ich war immer auf Seiten derer, denen dieses Land von Gott gegeben wurde. Aber ich glaube auch, dass man sich den Zeitpunkt des Handelns sehr genau aussuchen muss. Man braucht Ansehen, eine gesellschaftliche Stellung, Geld. Ich halte nichts von aus der Gosse gekrochenen Revolutionären, die mit Dreck an den Schuhen zu den Leuten sprechen, das gehört sich einfach nicht, verstehen Sie?«

Drinnen war es kühl und dunkel. Auch hier blieben die Sicherheitsleute, die ihn auf Schritt und Tritt begleiteten, unsichtbar, aber der Alte wusste, dass sie nah genug waren, um seinen Atem spüren zu können.

Sein Leben war ohne menschliche Schutzschilde nicht mehr denkbar. Im Gegensatz zu anderen, denen das nach einiger Zeit auf die Nerven ging, genoss er den Zustand. Jeder einzelne der Männer würde für ihn durchs Feuer gehen, sie waren bis ins Knochenmark geprüft, ihm überschrieben, sein Eigen. Ein Augenzucken von ihm, ein Hauchen, und Mirko würde die nächsten zwei Sekunden nicht überleben.

»Ihnen ist klar, dass mein Name auf keinen Fall auftauchen darf«, sagte er beiläufig, während sie die schwarzen Kirchenbänke entlangschritten. »Ich werde Ihnen die benötigten Mittel zur Verfügung stellen, aber ich werde Sie nicht schützen.« Er drehte sich um und sah Mirko an. »Anders gesagt, wenn ich Ihr Leben opfern muss, werde ich keine Bedenken haben, es zu tun.«

»Natürlich nicht. Wenn ich mir die Frage gestatten darf, haben Sie es vor?«

»Nein. Hätte ich es vor, würde ich nicht davon sprechen. Mir ist bewusst, dass Sie auf unserer Seite stehen, auch wenn Sie mit aller Vehemenz auf Ihre Unabhängigkeit und Neutralität pochen.« Der Alte ging ein Stück weiter und blieb vor einer geschnitzten Marienfigur stehen. »Vergessen Sie nicht, dass ich alles über Sie weiß. Vielleicht ein paar Dinge, die selbst Ihnen entgangen sind.«