Выбрать главу

Sie wartete in der Halle der Gepäckausgabe und sah mit leblosem Blick die Werbung auf den Transportbändern an. Mittlerweile hatten es findige Konstrukteure geschafft, die Kunststoffschuppen der Bänder für Displays zu nutzen, die der ständigen Beanspruchung durch die drauf gepfefferten Koffer und Taschen standhielten. Gepäckstücke näherten sich nun nicht länger auf neutralem Schwarz, sondern auf Waschmitteln, Fernsehzeitschriften, glücklichen Hausfrauen, Mineralwässern oder Hundefutter.

Der Koffer geriet in Sichtweite. Jana ließ die Grauhaarige ihre rechte Hand ausstrecken und das schwere, unförmige Teil ergreifen. Sie zog den Koffer hinter sich her, nahm draußen ein Taxi und ließ sich zu der kleinen, preiswerten Pension hinter dem Bahnhof bringen, wo sie für die folgende Nacht ein Zimmer reserviert hatte. Dem Rheinpanorama schenkte sie im Vorbeifahren ebenso wenig Beachtung wie den erleuchteten Domtürmen und der Kirche Groß St. Martin. Der Taxifahrer wollte wissen, ob sie das erste Mal in Köln sei. Sie antwortete in gebrochenem Deutsch, sie besuche Verwandte. Danach fragte der Taxifahrer nichts mehr, weil eine verblühte und radebrechende Mittvierzigerin, die in Köln Verwandte besucht, nichts über Fußball und lokale Politik weiß und einem Taxifahrer darum nichts Bemerkenswertes zu erzählen hat.

Die Pension erwies sich als einfach, aber gemütlich. Diesmal erbot sich der Besitzer, ihr den Koffer auf das schmale Zimmer im zweiten Stockwerk zu tragen, und sie ließ ihn gewähren, kramte nach einem Zweimarkstück und drückte ihm die Münze in die Hand. Der Mann teilte ihr unbeeindruckt mit, Frühstück gäbe es bis 9.30 Uhr. Sie nickte, lächelte dankbar und wartete, bis seine Schritte auf der Treppe verklungen waren.

Dann starrte sie eine Weile reglos aus dem Fenster und machte Pläne.

Gegen acht verließ sie das Hotel, nachdem sie sich einen nicht so teuren Italiener hatte empfehlen lassen, der in unmittelbarer Domnähe lag. Dort aß sie Penne all’arrabiata und trank zwei Gläser Rotwein.

Anschließend schulterte sie ihre Umhängetasche und ging durch die mittlerweile geschlossenen Buden des Weihnachtsmarktes auf der Domplatte hinunter zum Rhein. Eine Zeit lang ließ sie ihren Blick schweifen und den späten Schiffen folgen, machte sich im Geiste Notizen und fügte lose Gedankengänge zusammen. Im Päffgen, dem traditionsreichen Brauhaus in der Altstadt, probierte sie Kölsch, fand den Geschmack angenehm und machte sich um kurz nach zehn wieder auf den Rückweg in die Pension, wo sie ihr Zimmer aufsuchte, das Licht löschte und sofort einschlief.

Das Frühstück nahm sie um 9.00 Uhr ein, bezahlte ihre Rechnung und bat darum, den Koffer noch eine Stunde im Flur stehen lassen zu dürfen. Dann fragte sie nach dem nächsten großen Kaufhaus. Der Pensionswirt versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, und schickte sie, nachdem die grauhaarige Frau sich mangels erforderlicher Deutschkenntnisse als unfähig dazu erwiesen hatte, zum Kaufhof. Jana bedankte sich, ließ sich vom Menschenstrom auf der Hohe Straße mittreiben und betrat das Kaufhaus wenige Minuten später. Nach kurzer Orientierung fand sie die gesuchte Abteilung und erstand einen eleganten Koffer von MCM und eine passende Handtasche. Sie bezahlte bar, verstaute die Handtasche in dem Koffer und zog diesen hinter sich her bis zum Bahnhof, wo sie ihn in einem Schließfach deponierte und zurück zur Pension ging, um ihren eigenen Koffer zu holen. Man rief ihr dort ein Taxi, mit dem sie sich zum Bahnhof fahren ließ, den neuen Koffer dem Schließfach wieder entnahm und mit beiden Gepäckstücken in der öffentlichen Toilette verschwand.

Dort suchte sie eine Kabine auf, befand den winzigen Raum nach einem schnellen Blick für tauglich und schloss hinter sich ab.

Was nun geschah, erfolgte mit dem messerscharfen Timing vollendeter Professionalität. Im Nu hatte Jana den schäbigen Koffer entleert, einen Teil des Inhalts auf den geschlossenen Toilettendeckel gelegt und den Rest vor sich auf den Boden gestapelt. Es war alles andere als einfach, in den beengten Verhältnissen einer öffentlichen Toilette Koffer größeren Formats umzupacken, aber durchaus machbar, wenn man in so etwas Übung hatte. Jana brauchte dafür keine zwei Minuten. Kleidung und Accessoires wechselten den Aufbewahrungsort, das meiste verschwand in dem neuen Koffer, verschiedenes in der neuen Handtasche. Sie legte die unscheinbaren Kleider, die sie am Leibe trug, bis auf BH und Slip ab, zog die graue

Perücke von ihrem Kopf und rubbelte die hauchdünne Schicht Latex von Stirn und Wangen, die ihrer Haut das unreine und verblühte Aussehen gegeben hatte. Mit schnellen, aber kontrollierten Bewegungen legte sie nacheinander eine schwarze Strumpfhose, eine gleichfarbige Bluse, einen engen grauen Rock und ein dazu passendes Jackett an, verfügte eine teure Uhr und dezenten Silberschmuck um Handgelenke und Hals und schlüpfte in ein Paar mattschwarzer Pumps. Rasch zog sie einen Handspiegel hervor und widmete sich ihrem Gesicht. Das Make-up nahm eine zusätzliche Minute in Anspruch, dann verschwand ihr Naturschopf unter einer weiteren künstlichen Haartracht. Im nächsten Moment fielen blonde Locken auf Janas Schultern. Sie verstaute die Schminkutensilien in ihrer Handtasche, packte die graue Frau namens Baldi mit allem Drum und Dran zu ihrer übrigen Kleidung, warf ein schwarzes Lodencape um ihre Schultern und verließ die Kabine entspannt mitsamt ihren neuen Gepäckstücken.

»Ich glaube, da drinnen hat jemand seinen Koffer vergessen«, sagte sie zu der Toilettenfrau auf Deutsch mit slawischem Einschlag und platzierte eine Münze auf ihrem Teller. Ohne eine Antwort abzuwarten, den MCM-Koffer fest im Griff, die Handtasche unter den Arm geklemmt, ging sie hinaus in die Bahnhofshalle und von dort zum Taxistand. Der Fahrer des ersten Wagens, der sie kommen sah, stieg unverzüglich aus und half ihr, den Koffer zu verstauen. Sie registrierte befriedigt, dass er den Blick verstohlen an ihr herunterwandern ließ, bevor er sie hinten einsteigen ließ.

»Hotel Kristall«, sagte sie.

Den Koffer auf der Bahnhofstoilette und die alte Umhängetasche darin würde man ins Bahnhofsfundbüro geben. Beide Teile hatte sie ausschließlich mit Handschuhen angefasst, aber da sie leer waren und keinerlei Besonderheiten aufwiesen, würde kein Mensch je auf die Idee kommen, sie auf Fingerabdrücke hin zu untersuchen. Nach kurzer Zeit, in der niemand kam, um sie abzuholen, würden sie auf den Müll wandern oder in den Besitz irgendeiner armen Seele übergehen.

Jemand war nach Köln eingereist. Jemand anderer würde ausreisen. Das war alles.

Belustigt dachte Jana an die unzähligen Bücher und Filme, in denen Geheimagenten und Gangster ähnliche Verwandlungen mit ihrem Äußeren vollzogen hatten wie soeben sie. Immer wurde es als etwas Besonderes dargestellt, aber es war nichts Besonderes. Verwandlung gehörte zur Routine. Es ging lediglich darum, möglichst oft die Spur hinter sich abzubrechen, tunlichst, bevor irgendjemand sie überhaupt erst aufgenommen hatte. Möglicherweise war alles, was sie diesbezüglich bisher getan hatte und noch tun würde, gar nicht nötig. Zu einem späteren Zeitpunkt würde sie mit einiger Gewissheit offiziell als Laura Firidolfi nach Köln reisen. Im Moment jedoch gefiel es ihr so besser.

Kein Mensch würde später bekunden können, ob eine Person, die möglicherweise verantwortlich war für die kommenden Ereignisse, je in Köln geweilt hatte. Die Rekonstruktion der Vorgänge würde nahezu unmöglich werden. Zu keiner Zeit würde jemand Jana in Köln erblickt haben. Jana, wie sie wirklich aussah, gab es ohnehin nur in der Gestalt Laura Firidolfis, und die weilte zur Zeit im Beisein ihres Finanzdirektors Silvio Ricardo und des Chefprogrammierers der Neuronet, Maxim Gruschkow, im italienischen Süden, was beide auf Ehre und Gewissen bezeugen konnten.