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Aber noch während ihr Verstand protestierte, ging sie in die Hocke, ergriff den schlanken Stiel des Glases und begann, es leicht zu drehen und von der Lampe weg- und wieder darauf zuzuschieben. Die leuchtenden Bögen in der Flüssigkeit verloren oder gewannen an Intensität, je nachdem. Sie streckte den Zeigefinger aus und schob das Glas ganz unter die Halogenbirne, bis sich das Licht in einem strahlenden Punkt bündelte, einer kleinen Sonne, dort, wo der Kelch des Glases auf dem Stiel ruhte.

Dann ergriff sie das Glas und trank es aus.

Ungewöhnlich war es!

Aber würde es auch nur im Traum funktionieren?

Die Müdigkeit war verflogen, von Verspannung keine Spur mehr. Jana zog eine Schublade auf, entnahm ihr einen neuen Block und einen Bleistift und begann zu arbeiten.

JUNI. KOELN. 1. PHYSIKALISCHES INSTITUT

Für die meisten war O’Connors Besuch Anlass zur Freude.

Wagner nahm sich vor, alles zu tun, um die Freude einigermaßen abzusichern, als sie um Viertel vor sechs ihre Eltern verließ, aber ein Unwetter konnte man auch nicht mehr als ankündigen. Auf O’Connor warteten rund vierzig Studenten, eine Hand voll Professoren und diverse Leute von der Kölner Presse. Entweder sie schloss den Physiker im Hotel ein oder fügte sich in das Unvermeidliche, wie immer es sich darstellen mochte.

Die Innenstadt war dicht. Wagner brauchte zwanzig Minuten, um zum Institut zu gelangen und den Golf zwischen zwei rostzerfressene Renaults zu bugsieren, deren Seitenscheiben mit Verkaufsangeboten zugeklebt waren. Die Zülpicher Straße, an der die weißen Flachbauten des Instituts inmitten einer ausgedehnten Grünanlage hervorstachen, war die Handelsmeile der Studenten für ihre meist vorsintflutlichen Fortbewegungsvehikel. Man konnte Autos erstehen, die als mindestens so ausgestorben galten wie die Saurier, und manche fuhren sogar. In den letzten Jahren hatte sich der Durchschnittszustand der hier versammelten Blechhaufen etwas gebessert, aber immer noch sah man Kuriositäten zu Vorkriegspreisen, denen man kaum zutraute, ihren Parkplatz je wieder verlassen zu können.

Wagner schloss den Golf ab in der Hoffnung, dass niemand ihn zwischenzeitlich kaufte, sah sich nach beiden Seiten um und lief über die Straße. Keine hundert Meter weiter begann jenseits einer Eisenbahnüberführung das studentische Kneipenviertel. Inzwischen, nachdem man jahrelang nicht durch bestimmte Straßen hatte gehen können, ohne auf Drogenverkäufer zu stoßen, die aus ihrer Ware keinen Hehl machten, ging es dort wieder einigermaßen gesittet zu. Einige der schlimmsten Läden hatten dichtgemacht oder die Besitzer gewechselt. Der Auto- und Fahrraddiebstahl war geringfügig zurückgegangen. Wirklich kriminell war nach Aussage einiger Studenten aus Wagners ehemaligem Dunstkreis nur noch das Essen in der Mensa, und selbst das hatte sich angeblich gebessert.

Sie umrundete das Gebäude auf gepflasterten Wegen, bis ihr Bäume den Weg versperrten und sie den kompletten Weg zurück musste. Der Eingang lag versteckt am gegenüberliegenden Ende. Wagner hatte in Köln Germanistik, Politik und Anglistik studiert, bevor sie an die Alster emigriert war, aber das Physikalische Institut hatte sie auch damals nie betreten.

Im Laufschritt nahm sie die wenigen Stufen zu den Glastüren, die ins Innere führten, und durchquerte die dämmrige Halle. Es gab schlimmere und erbärmlichere Orte der Gelehrsamkeit; wenigstens schmückten ein paar Bilder von Radioteleskopen und spektographische Aufnahmen der Erdoberfläche die Wände. Nachdem Wagner die Halle fast vollständig durchquert hatte, las sie zu ihrer Rechten die Aufschrift »1. Physikalisches Institut« auf einer großen Glasfläche. Dahinter lag der Hoheitsbereich der Leute, die verstanden, was der Weltraum zu erzählen hatte. Im angrenzenden Trakt begann das eigentliche Institut. Man kam nicht einfach herein, wenn man nicht angemeldet war. Auch die Wissenschaft schützte sich vor unerwünschten Eindringlingen.

An einer Wand hing ein Telefon. Sie wählte eine Nummer und wartete. Eine Stimme meldete sich.

»Kika Wagner«, sagte sie. »Ich bin die Vorhut von…«

»Ich weiß schon«, antwortete die Stimme. »Warten Sie einen Augenblick, ich hole Sie ab.«

Sie hängte ein und legte den Kopf in den Nacken. Über ihr prangte ein Foto der Zugspitze. Die Spitze der Zugspitze, um genau zu sein. Hineingekauert in das Felsmassiv wartete die kompakte Halbkugel eines Observatoriums darauf, dem Universum seine Geheimnisse abzutrotzen.

Wagner stellte sich vor, eine sternenklare Nacht dort zu verbringen. Man vergaß allzu oft, dass viele Wissenschaftler im Grunde ihres Herzens Romantiker waren. Sie dachte, dass man sich dort oben unsagbar klein vorkommen musste, wie unter dem Mikroskop, und vielleicht war es ja so. Vielleicht wurden die Menschen mit ihren Gerätschaften, wie tief sie auch in die Welt des Allerkleinsten vordringen mochten, selbst gemessen – intelligente Kulturen in kleinen Glasschalen, angesetzt in einem unvorstellbaren Laboratorium eines noch unvorstellbareren Instituts von metakosmischen Ausmaßen, das Universen entstehen und vergehen ließ.

Die Tür zu einem der angrenzenden Gänge öffnete sich, und ein untersetzter Mann mit Vollbart und üppigem Haarwuchs kam auf sie zu.

»Dr. Schieder?«, fragte sie.

»Schön, dass Sie da sind.« Der Mann drückte ihr die Hand. »Kommen Sie, wir gehen in mein Büro. Haben Sie O’Connor schon mitgebracht?«

»Noch nicht«, sagte Wagner. »Aber wir haben ihn… na ja, ziemlich wohlbehalten in Empfang genommen. Er dürfte in einer halben Stunde hier sein, zusammen mit Franz Maria Kuhn.«

»Das ist der Lektor, richtig?«

»Ja, richtig.«

Sie gingen an verschlossenen Türen und kahlen Wänden vorbei, bis Schieder sie in einen Raum führte, der anmutete wie eine Mischung aus Studierzimmer, Archiv und Laboratorium nach dem Einschlag einer Neutronenbombe. Tische und Tischartiges waren bis unter die nicht eben niedrige Decke voll gepackt mit Bergen von Ordnern, Heftern, Zeitschriften und allem möglichen Papier. Etwas hilflos sah sich Wagner nach einer Sitzgelegenheit um. Schieder bemerkte ihren suchenden Blick und zauberte hinter einer Pyramide aufgestapelter Videobänder einen Resopalstuhl hervor.

»Setzen Sie sich. Wir haben den großen Hörsaal vorbereitet. Ich würde Ihnen gern was zu trinken anbieten, aber alle verfügbaren Kaffeemaschinen sind im Einsatz oder kaputt. Unsere hier hat gestern ihren letzten Schnaufer getan, und keiner weiß, wie man sie wieder in Gang setzen kann. Dafür können wir Atome beobachten.«

»Woran arbeiten Sie?«, fragte Wagner neugierig. »Wenn ich fragen darf.«

»Sie dürfen, ist ja kein Geheimnis. An allem Möglichen. Wir bekommen Aufträge aus der Industrie, darum können wir uns auch vergleichsweise gut über Wasser halten. Zur Zeit verfeinern wir

Systeme zur Bearbeitung von Materialien wie Silizium. Die Radioastronomie ist das zweite große Feld.«

»Ich habe das Observatorium auf der Zugspitze gesehen.«

»Sie waren da?«, fragte Dr. Schieder überrascht.

»Auf dem Foto draußen.«

»Oh, natürlich. Das ist ein gewaltiges Ding, nicht wahr? Ehemaliges Hotel. Wir haben da oben nicht die üblichen atmosphärischen Verunreinigungen. Wir empfangen ziemlich ungefiltert das, was uns der Weltraum reinschickt.«

»Und das finanziert die Industrie?«

»Teilweise. Einiges kommt vom Staat. Es ist nicht gut, wenn man sich allein von den Konzernen abhängig macht, die Forschung gerät dann in die Tretmühle. Wenn die Industrie Problematiken vordenkt, verlangt sie keine wirklichen Innovationen, sondern nur wettbewerbstaugliche Verbesserungen bestehender Systeme. Forschung kostet Zeit, und Zeit kostet Geld, so ist das.« Er lachte. »Einige der größten Errungenschaften der Menschheit wurden aus Versehen erfunden. Das ist die Schwierigkeit mit dem Neuen, dem wahren Fortschritt. Irgendwo müssen Sie als Forscher ja anfangen, also fangen Sie dort an, wo Ihr Verstand gerade einhakt. Am Ende stoßen Sie auf etwas völlig anderes, und das bringt die Menschheit vielleicht ein Riesenstück weiter, aber erzählen Sie das mal im Vorfeld einem Investor. Solange wir uns Freiräume bewahren, hat echte Forschung eine Chance, ansonsten steht es schlecht um die Erklärung der Welt.« Er machte eine Pause. »Ich will Sie nicht langweilen. Sollen wir mal rübergehen? Vielleicht haben Sie noch Verbesserungsvorschläge.«