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O’Connor schenkte ihr keine Beachtung.

»Wo, sagten Sie noch, ist das alles zu finden?«

»In der Friesenstraße«, erklärte ihm der Buchhändler. »Sie sollten darauf bestehen, Doktor. Hören Sie meine Worte!«

»Danke.« Der Physiker grinste und lehnte sich zurück. »Aber ich fühle mich in Ihrer Gesellschaft ausgesprochen wohl. Ein andermal vielleicht. So viele kluge und gebildete Menschen, kein Grund, das Terrain zu wechseln. Nicht wahr – Frau Wagner?«

Wagner musterte ihn.

»Sicher«, sagte sie langsam. »Ein schöner Abend.«

»Was ich Sie im Übrigen noch fragen wollte…«, begann die Dezernentin, und von diesem Moment an drehte sich – bis auf einen kleinen Exkurs zum Thema Neuentwicklungen der Automobilindustrie zwischen Vorspeise und Hauptgang – das Gespräch endlich um O’Connors Bücher und seine Leistungen auf dem Gebiet der experimentellen Physik.

Es musste gegen zehn Uhr gewesen sein, erinnerte sich Wagner später, dass O’Connor aufgestanden war, um sich für einige Minuten auf die Toilette zu entschuldigen. Das Selbstverständlichste von der Welt.

Bis auf die Tatsache, dass er nicht mehr wiederkam.

Er kam nach fünf Minuten nicht und auch nicht nach zehn. Fragende Blicke gingen hin und her. Eine Viertelstunde verstrich, ohne dass einer der Anwesenden daran zweifelte, er sei für ein Telefonat oder einen Garderobenwechsel auf sein Zimmer gegangen und werde gleich wieder erscheinen, eine charmante Entschuldigung auf den Lippen.

Um zwanzig nach zehn verlor Kuhn zum dritten Mal an diesem Tag jede Gesichtsfarbe und Contenance.

»Ich könnte ihn–«

»Ruhig, Fury.« Wagner tätschelte ihm den Arm. Der Mann von der IHK vertrieb sich mit der Dezernentin die Zeit, indem sie Inszenierungen des Schauspielhauses sezierten. Der Stadtsparkassen-Vorstand fachsimpelte mit dem Buchhändler über E-commerce. Einzig die Schauspielerin sah mit verlorener Miene in ihr Glas.

»Wie seltsam«, meinte sie. »Wir kamen uns gerade näher.«

Nein, gar nicht seltsam, dachte Wagner. Wenn du wüsstest. Sie beugte sich zu Kuhn und sagte leise:

»Unterhalten Sie die Truppe. Ich verschwinde.«

»Was?«, zischte der Lektor. »Sind Sie noch zu retten? Sie können mich doch jetzt nicht allein lassen. Erst O’Connor, und jetzt Sie!«

»Das meine ich doch, Sie Schafsgesicht. Ich hole ihn zurück.«

Kuhn sah sie verständnislos an. Dann nickte er wie in Trance.

»Okay. Vielleicht ist er ja eingeschlafen.«

Wagner schüttelte den Kopf.

»Ich sagte, ich hole ihn zurück. Er ist nicht eingeschlafen. Übernehmen Sie die Rechnung, wir sehen uns irgendwann.«

»Kika«, jammerte Kuhn.

Sie klopfte ihm auf die Schulter, stand auf und winkte in die Runde.

»Ich gehe mal nachsehen, wo sich unser Freund versteckt hält«, sagte sie. »Bin gleich wieder da.«

»Vielleicht finden Sie ihn ja in der Friesenstraße«, witzelte der Vorstand und zog an seinem werweißwievielten Zigarillo.

Kuhn sank noch mehr in sich zusammen.

»Ja«, sagte Wagner fröhlich. »Das wär doch was.«

1998. 28. DEZEMBER. KOELN

In der Nacht vor dem Zusammentreffen mit Mirko in Köln hatte Jana einen Traum, der sie nachhaltig beschäftigte.

Der luzide Traum hat eine interessante Eigenart, dass er nämlich dem Erkennenden die Möglichkeit offen lässt, aufzuwachen oder weiterzuträumen. Das höchste der Gefühle ist, in einem luziden Traum zu fliegen und dies im vollen Bewusstsein auszukosten, es jenseits der Mauern des Schlafs nicht mehr zu können. So nimmt man plötzlich Einfluss auf einen Prozess, dessen Urheber und Protagonist man ist und der sich normalerweise zwingend vollzieht.

Sie war aufgestanden und hatte das große Fenster in ihrem Schlafzimmer, von dem aus sie das Tal bis zur Erhebung von La Morra überblicken konnte, an der dem Bett gegenüberliegenden Wand vorgefunden, wo es nichts zu suchen hatte. Sofort war ihr klar, dass sie träumte. Aber sie beschloss, sich auf das Abenteuer einzulassen, zumal der Schauplatz nicht aus der Luft gegriffen, sondern eine Art Paralleluniversum war. Neben ihr lag jemand und atmete schwer. Sie beugte sich über die Gestalt, aber das Gesicht schien wie zerschmolzen, ohne Konturen und Identität. Sie stand auf, nackt, wie sie war, und trat an das versetzte Fenster, um hinauszublicken.

Vor ihr lag eine stille, ländliche Straße im Licht der frühmorgendlichen Sonne. Ein paar alte Häuser mit großzügig angelegten Vorgärten dämmerten schräg gegenüber vor sich hin, dahinter erstreckten sich Wiesen mit rotem Klatschmohn bis zum Rand eines Wäldchens, durchbrochen vom üppigen Gelb wogender Kornfelder. Ein Zirpen lag in der Luft, irgendwo bellte ein Hund, und drei bäuerlich gekleidete Gestalten standen ein Stück weiter weg beisammen und rauchten altmodisch geschwungene Pfeifen. Bienen, dick wie Daumen, schwirrten kapriolend herum und setzten sich sekundenlang auf ihre Hände, mit denen sie sich auf dem Fenstersims abstützte, um besser hinaussehen zu können. Jana wusste, dass sie nicht zustechen würden. Es war mehr ein flüchtiges Willkommen, und es machte Sinn, denn was sich ihren Augen dort im frühen Sonnenlicht darbot, war nichts anderes als der Blick aus dem Kinderzimmer der Sonja Cosic bei ihren Großeltern in der Krajina.

Für ein kleines Mädchen sind Bienen etwas größer als für eine ausgewachsene Frau. So oft sie als Kind dort gewesen war, so selten hatte sie sich später bei ihren Großeltern blicken lassen. Vielleicht darum reduzierte ihr Auffassungsvermögen die Bienen jetzt nicht auf die ihnen zustehende Größe. Die zurücklaufende Zeit hatte sie wachsen lassen, ebenso wie sie jene alten Männer mit ihren Pfeifen leben ließ, die umgekommen, begraben und vergessen waren. Einer von ihnen winkte herüber und rief, na, Sonja, bist du wieder da?, und es schien tatsächlich so. Sie wollte winken und rufen, aber etwas hielt sie zurück, und sie sah weiter einfach nur hinaus.

War sie wirklich dort? Sie träumte, so viel war klar, aber hatte sie der Traum an den richtigen Platz geführt? Die Landschaft mutete eine Spur zu idyllisch an, alles in dieser Welt war künstlich überhöht, nuanciert zwar, aber unübersehbar. Und doch zeigte sich ihr die reine Wahrheit der Kinder, die in den ersten Jahren ihres Lebens nicht merken, dass sie wachsen, sondern staunend glauben, die Welt um sie herum schrumpft.

In das Glücksgefühl, das von ihr Besitz ergriffen hatte im Moment, da sie die Straße erblickt hatte, mischte sich Unsicherheit. Sie sah an sich herunter. Ihr Körper war der einer Erwachsenen, aber eindeutig befand sie sich an einem Ort ihrer Kindheit.

Einer der alten Männer löste sich aus der Gruppe und trat bis dicht unter das Fenster. Weiße Bartstoppeln überzogen Kinn und Wangen. Sie erkannte ihren Großvater.

Bin ich ein Kind?, fragte Jana. Ihre Stimme klang dünn und ängstlich.

Natürlich, nickte Großvater.

Aber ich sehe nicht aus wie ein Kind, sagte sie. Kann ich trotzdem bleiben, wenn ich verspreche, niemanden mehr zu töten?

Die Wahrheit der Kinder ist die Veränderung, Kleines, sagte Großvater sanft und zog an seiner Pfeife, und darum ist es eine lebendige und sich entwickelnde Wahrheit. Ein Kontinuum des Möglichen, eine metaphysische Manifestation, in der nicht zählt, was fehlt, wie bei uns Erwachsenen, sondern was ist. Und das, was ist, umfasst in deinen Augen eben weit mehr als die paar Dinge, die ein Mensch in meinem Alter sieht. Glaub nicht das Märchen von der Weisheit, Alter macht blind. Merke dir, die Welt ist nicht definierbar, sie ist interpretierbar. Solange du ein Teil der Realität bist, ist die Realität ein Teil von dir, und dann haben Pferde plötzlich Flügel, und sie haben wirklich welche. Aber du musst es wollen, und du musst es auch nicht wollen und die Kontrolle darüber behalten. Dein Wille ist der einzige Grund, warum du hier bist, Sonja. Wenn du anderen gestattest, für dich zu wollen, solltest du besser zurücktreten von diesem Fenster, weil du dir dann selbst nicht mehr trauen kannst. Es gibt keine Wahrheit als dich, denn die Welt existiert ausschließlich in deinem Kopf, und du wirst nie beweisen können, dass es anders ist.