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Ohne ihm einen weiteren Blick zu schenken, öffnete Mirko den doppelten Boden des Koffers. Im Innern wurde ein flaches Gestänge sichtbar, in das die PSM eingelagert war. Wo der Lauf gegen die Kofferseite stieß, war das Leder besonders dünn gewesen. Ein Teil des Gestänges verband den Abzug der Waffe mit dem im Koffergriff, die Auslösung erfolgte über einen elektronischen Impuls, der Koffer selbst fungierte als Schalldämpfer. Der Trick war nicht ganz neu, aber dennoch ungewöhnlich. Nur wenige Professionals konnten mit dem komplizierten Mechanismus umgehen.

Mirko entnahm die Waffe und schloss den doppelten Boden wieder. Dann räumte er in aller Seelenruhe das Geld zurück in den Koffer, klappte ihn zu und ging durch das Büro zu der Flügeltür. Er stieß sie auf. Während er hinaus in die Vorhalle trat, schoss er auf die beiden Leibwächter. Sie hatten sich auf zwei Stühlen niedergelassen und lasen in irgendwelchen Magazinen. Den ersten erwischte Mirko im Sitzen. Der zweite schaffte es, halb hochzukommen und die Hand unter seinem Jackett verschwinden zu lassen, bevor er tot zurück auf den Stuhl kippte.

Mirko ließ den Blick kreisen, steckte die Waffe ein und verließ das Haus. Nach einigen Minuten erreichte er die Bank und stellte den Koffer zurück ins Schließfach; jemand würde sich darum kümmern. Dann ging er ohne sonderliche Eile durch den Park entlang der Dreifaltigkeitskirche, bis er zum Fluss gelangte, wo er die Waffe in einem unbeobachteten Moment ins Wasser warf. Er sog die kalte

Luft ein. Zufrieden ging er weiter zum vereinbarten Treffpunkt. Der Wagen gabelte ihn dort auf und fuhr ihn auf direktem Wege zum Flughafen.

Der YAG war in Deutschland, die Spuren verwischt. Oder auch gelegt. Je nach Sichtweise. Außerdem hatten sie ihr Team beisammen. Bis hierhin hätte es nicht besser laufen können.

Mirko begann leise vor sich hin zu pfeifen. Er liebte Tage wie diesen. War Erfolg nicht wunderbar entspannend?

1999.16 JUNI. KOELN. MARITIM

Nebeneinander zu liegen, konnte die Welt verändern.

Wagners Kopf ruhte auf O’Connors Brust. Sie hatte die Beine angezogen und kam sich vor wie achtzehn und eins achtundsiebzig.

Höchstens.

Das Bemerkenswerte an der Situation war, dass sie es genossen hätte, mit ihm zu schlafen, und zugleich eine gewisse Befriedigung verspürte, es nicht getan zu haben. Mittlerweile war es kurz nach sechs, und sie fühlte sich gleichermaßen sturzbetrunken wie von einer kristallenen Nüchternheit geleitet, die es ihr gestattete, die Kontrolle zu behalten.

Um nichts anderes ging es bei dem Spiel, das sie beschlossen hatten zu spielen. Es erforderte Kontrolle, sie im richtigen Moment zu verlieren. Sowohl O’Connor als auch Wagner war klar, dass ihrer Scheherezade die Nacht der Nächte folgen würde. Aber es war nicht diese. Das irritierende Moment des Loslassens ohne alle Vorbehalte gründete nicht auf Plänen und ausgetrunkenen Whiskyflaschen. Es war eine angenehme Ironie, dass die häufigste Rechtfertigung für One-Night-Stands, der Alkohol, diesmal als Grund dafür herhielt, sich die Sache verkniffen zu haben. Und sei es nur für die Dauer einiger Stunden oder Tage.

Eingehüllt in die Gewissheit, dass körperliche Größe relativ ist und geistige epochal, lag Wagner im Arm des Physikers. Seine Brust war ein Bienenkorb in ihrem Ohr. Er sandte Vibrationen aus, als er etwas summte, das man wahrscheinlich nur in Shannonbridge und ähnlich verwunschenen Orten zu hören bekam, lange nachdem es einen vom Pub in den Lebensmittelladen geschwemmt hatte, an dessen Tresen man mit dem Dorfpolizisten, der wiederum der Schwager des Wirts war, dessen Onkel das Geschäft gehörte, deren gemeinsamer bester Freund ein Boot hatte, bei einem späten Guinness einen Besuch der kleinen Insel im Shannon erwog zwecks Inaugenscheinnahme, ob der Karpfen in dem noch kleineren Teich noch lebt, der bereits da war, als der Riese seine Frau und ihren Liebhaber mit der Schleuder tötete anno Vorzeit, weil die beiden es miteinander trieben und dabei die Frechheit besaßen, sich für die Dauer des Gebalzes in Vöglein zu verwandeln und den Riesen mittels Zaubertrank in Schlaf zu versetzen, was einmal nicht geklappt hatte, und das war’s dann gewesen mit der Wollust, und so weiter und so fort.

Sie öffnete die Augen.

O’Connor hatte die Vorhänge nicht zugezogen. Es war strahlend hell. Durch das halbgeöffnete Fenster drang Vogelgezwitscher herein. Wagner fragte sich, wie sie jemals aufrechten Ganges auf den Golfplatz gelangen sollten, aber sie vertraute der wundersamen Fähigkeit O’Connors, Alkoholproblemen mit nüchterner Sachkenntnis zu begegnen und die Kurve für sie gleich mit zu kriegen.

Das Summen erstarb.

»Du bist doch nicht etwa eingeschlafen?«, murmelte sie in eine Falte seines aufgeknöpften Hemdes.

»Doch.«

»Das ist unsportlich. Und langweilig. Ich dachte, wenn du betrunken bist und dich unbeobachtet wähnst, schreibst du Meisterwerke oder bremst wenigstens ein paar Photonen ab.«

»Natürlich tue ich das«, sagte O’Connor. Ebenso wie sein Gesumme vorhin war auch seine Stimme in der Raum und Zeit entbundenen Wirklichkeit dieses Zimmers nicht viel mehr als ein dunkles, ungemein wohltuendes Vibrieren. »Aber nur in der wirklichen Welt.«

»Was ist die wirkliche Welt?«

»Die in meinem Kopf. Alles andere ist nur Phantasie. Deine und die anderer Leute. Wenn ich da oben fertig bin, gestatte ich euch allen, mich zu träumen und meiner Genialität teilhaftig zu werden.«

»Du meinst, du existierst gar nicht wirklich?«

»Ich meine, ihr existiert gar nicht wirklich.«

»Du spinnst.«

»Ich weise jede Verantwortung von mir. David Hume spinnt. Er hat das erfunden mit der–«

»Ja, ich weiß. Hume spinnt auch.«

»Wie Recht du wahrscheinlich hast. Ablehnung ist die ökonomischste Form von Interesse, ich gratuliere dir. Also gut, du existierst auch. Sonst aber bitte keiner.«

»Was hast du da eben gesummt?«

O’Connor begann ihren Nacken zu kraulen, dann drang wieder die Melodie an ihr Ohr.

»Ja, genau das! Was ist das?«

»Na Geanna Fiäine«, sagte O‘Connor.

»Klingt irgendwie gälisch«, bemerkte Wagner.

»Es ist Gälisch und handelt von den Wildgänsen, die über das Land ziehen. Man kann es interpretieren. Die einen sagen, sie kehren zurück in das goldene Dublin von Richard Cassels, Thomas Ivory und James Gandon, das sind die Burschen, denen wir die Royal Exchange verdanken und Prächtigkeiten wie die Four Courts oder die Westfront des Trinity, hinter der ich mich jahrelang zu Tode gelangweilt habe. Die andere Version entspricht eher meinem Verständnis irischer Tristesse. Die Gänse verlassen die Insel, sie ziehen fort und nehmen das uralte Irische mit sich hinweg.«

»Es klingt schön. Was immer die Gänse sich dabei gedacht haben.«

»Ein Harfenist namens Patrick Quinn hat es Anfang des neunzehnten Jahrhunderts einem Mann verkauft, der so was sammelte«, brummte O’Connor. »Weißt du, alle Iren singen, auch die, die es gar nicht können. Nicht, weil sie so musikalisch sind, sondern weil man ihnen sonst das Elend nicht abkauft.«

»Du bist mir schleierhaft.«

»Ich mir auch.«

»Warum säufst du eigentlich so viel?«

»Das ist eine dumme Frage. Alle Iren–«

»Alle Iren trinken. Ja, natürlich, was denn sonst? Kannst du mir eine Erklärung geben, die nicht im Reiseführer steht?«

O’Connor schwieg eine Weile. Dann sagte er:

»Es gibt Wildgänse, die kommen, und welche, die fliegen davon. Dann gibt es welche, die kreisen.«

»Und warum tun sie das?«

»Würden sie eine Richtung einschlagen, könnte man ihnen folgen.«