Выбрать главу

»Und das ist ein Grund, zu saufen?«

»Es ist ein Grund, nie nüchtern zu werden. Gekonntes Kreisen entbindet dich von jeder Verantwortung. Du darfst ungestraft Licht abbremsen und anderen Unfug treiben. Du darfst dein Geschwätz in Form von Büchern unters Volk bringen. Du darfst dich danebenbenehmen und wirst im Gegenzug noch hofiert. Nur die Iren können sich das erlauben, diese elende Bande. Jeden anderen würde man ins Irrenhaus stecken. In Dublin gab es einen Mann, den sie den Yupper nannten. Wenn jemand zu Fuß die O’Connell Bridge überquerte, kam er von hinten herangesprungen und schrie ›Yup!‹, dass einem das Herz aus dem Hals sprang! Er yuppte jeden. Er war ein genialer Kreiser. Weißt du, manchmal denke ich, dass ich mein Leben damit verbringe, Yup zu brüllen, und jedes Mal funktioniert es. Kein Mensch will, dass ich irgendeine Richtung einschlage. Glaubst du im Ernst, so was lässt sich durchhalten, wenn man nüchtern ist?«

»Warum hörst du dann nicht auf zu kreisen?«

»Und was tust du?«

Wagner dachte darüber nach. Ihr fielen tausend staubtrockene Antworten ein, die an Ödnis kaum zu überbieten waren. Dann kam ihr in den Sinn, dass jedes halbwegs gesittete Statement einer dieser Richtungen zu entsprechen schien, von denen O’Connor gesprochen hatte. Es machte nicht im mindesten Spaß, rationale Aussagen über den Umstand ihres Hierseins zu treffen, die Frage sachlich zu erörtern, warum sie mit jemandem, den sie nicht mal vierundzwanzig Stunden kannte, auf einem Bett lag, eine beinahe leer getrunkene Flasche Single Malt daneben, beseelt von dem Gedanken, es miteinander zu treiben, und zugleich entzückt, es nicht zu tun. Während sie noch überlegte, wie sie die Logik dieser Philosophie zerschlagen konnte, offenbarte sich ihr tatsächlich die Vision umeinander kreisender Gedanken, die vergnüglich schnatternd ihre Bahnen zogen. Warum schließlich hatten die größten Schriftsteller immer über die gleichen Plätze und die gleichen Menschen geschrieben, die größten Maler immer dasselbe Bild gemalt, spielten die größten Schauspieler immer wieder dieselben Rollen?

Dieses Kreisen war schön. Irgendwie zu schön.

Sie stemmte sich hoch, so dass sie O’Connor in die Augen sehen konnte. Sie waren halb geschlossen. Er krauste die Nase, und es sah ungemein liebenswert aus.

»Du kreist nicht«, sagte sie. »Du tust nur so, als ob. Wie in allem.

Du gefällst dir in diesen Rollen. Liam, verdammt noch mal, du bist ein begnadeter Physiker geworden, du schreibst Bestseller, irgendwann musst du eine Richtung eingeschlagen haben.«

O’Connor lächelte.

»Wenn der Kreis nur groß genug ist, kommt er anderen wie eine Richtung vor.«

»Findest du nicht, dass wir allmählich sehr abstrakt werden?«

»Es ist das Privileg der Säufer, abstrakt zu sein. Joyce war so abstrakt, dass er mit Büchern zu Weltruhm gelangte, die kein Mensch versteht. Wenn ich mich recht erinnere, was Kuhn mir über dich erzählt hat, bist du in Köln geboren, aber du arbeitest in Hamburg.«

»Stimmt. Und?«

»Wie ist es denn so, zurückzukommen?«

»Es ist…« Wie war es denn? »Na ja, zurückkommen halt. Es ist gut. Meine Eltern leben hier.«

»Warum bist du überhaupt in Hamburg?«

»Der Job.«

O’Connor schüttelte sacht den Kopf.

»Du bist nicht wegen des Jobs nach Hamburg gegangen. Erzähl mir keine Märchen. Du liebst Köln, ich kann es förmlich riechen. Auch du bist nämlich nichts von dem, was du vorgibst zu sein. Weder so tough, wie du tust, noch gern in Hamburg. Und schon gar nicht bist du hier, weil du meine Pressearbeit machst.«

Wagner stutzte. Ihr Verstand war im Augenblick auf Absurdes gepolt, aber das war etwas, dem sie ernsthaft zu begegnen hatte.

Oder etwa nicht?

»Ich mache sie aber«, sagte sie trotzig.

»Das bestreite ich nicht. Ich sage nur, dass du nicht deswegen hier bist. Sie haben dich mitgeschickt, damit du auf mich aufpasst, stimmt’s?«

»So ein Blödsinn.«

Er fasste sie sanft bei den Schultern und zog sie zu sich heran. In der Schwerelosigkeit des Kusses ging die Sonne mindestens dreimal auf und unter. Wildgänse verfolgten fliegende Whiskyflaschen.

»Stimmt’s?«, fragte er noch einmal.

Wagner verschränkte die Arme auf seiner Brust, stützte das Kinn darauf und sah ihn an.

»Ich habe in einem Verlag die Pressearbeit gemacht und den Fehler begangen, mich in meinen Chef zu verlieben«, sagte sie. Seltsam, wie problemlos ihr das alles von den Lippen kam. »Ist ein paar Jahre her. Köln war nicht groß genug, um wegzulaufen.« Sie kicherte. »Römische Ringstruktur. Ideal, wenn man kreisen will. Das Problem ist, dass du dir hier ständig über den Weg läufst. Du triffst an jeder Ecke jemand Bekanntes, aber eigentlich immer nur dich selbst. Das kann schön oder schlecht sein. In meinem Fall war es übel, also hat die Gans das Land verlassen.«

O’Connor schwieg.

»Du willst es genau wissen, was?« Sie seufzte. »Nein, ich bin nicht gern fortgegangen. Wäre es anders gelaufen, hätte ich immer noch meine Wohnung im Belgischen Viertel oder würde mit einem netten Mann zusammenleben, der zumindest vorgibt, in gerader Richtung zu fliegen. Aber natürlich hast du Recht, ich bin gekreist, immer über der verdammten Situation, bis es zu viel wurde. Wir waren eine Zeit lang zusammen, dann wieder auseinander, liefen uns aber täglich dutzendfach über den Weg, was überhaupt nicht funktionierte. Schachmatt. Also habe ich mir auf Gedeih und Verderb was anderes gesucht, nur um erst mal von ihm wegzukommen. Hier in Köln. Ich hatte auch ganz schnell was, aber es war eine einzige Katastrophe. Wie auch anders, wenn du unter solchen Vorzeichen blind in irgendein Loch springst, um dich zu verstecken. Plötzlich hast du das Gefühl, die ganze Stadt ist dein Problem. Nichts gelingt dir, überall lauern nur Enttäuschungen und Ärger. Du nimmst dir jemanden mit ins Bett und möchtest ihn im selben Moment wieder rausschmeißen. Du rennst wie eine Wahnsinnige davon, aber du läufst auf einer Aschenbahn, und immer wieder kommst du an derselben Tribüne vorbei, und mit jedem Mal scheint alles auswegloser, und die Ratschläge deiner Freunde klangen auch schon mal origineller… Na ja, und eines Tages packst du dann einen Koffer und kapitulierst. Du redest dir ein, dass es woanders auch ganz prima sein kann und du sowieso überall glücklicher bist als hier. Ein bedeutender Verlag unterbreitet dir ein Angebot, also gehst du.«

Wagner machte eine Pause.

»Anfangs kommst du nicht wieder. Du musst dir ja beweisen, dass du die Stadt und dein altes Leben nicht brauchst. Dann regst du dich irgendwann wieder ab, der Liebeskummer verflüchtigt sich, und für Verbitterung bist du ohnehin zu jung. Alles wird wieder normal. Du hast Erfolg, neue Freunde und eine Menge Spaß, aber leider wohnst du in der falschen Stadt. Weil du das weißt, hast du auch keinen Freund, bringt ja eh nichts, wo du selbst nur bei dir zu Gast bist. Deine übrigen kleinen Unzufriedenheiten, zum Beispiel, dass du lang und dünn wie eine Pappel bist, melden sich zurück wie alte Bekannte zum Teetrinken, und fast freust du dich über die Vertrautheit deiner wiedergefundenen Komplexe. So lebst du nicht schlecht und suchst dir, ohne es richtig zu merken, einen neuen Radius zum Kreisen, einen größeren, der von der Alster an den Rhein reicht. Das läuft eine Weile wie geschmiert, bis du eines Morgens auf dem Bett eines Wahnsinnigen liegst, der dir was von anderen Wahnsinnigen erzählt und dich abfüllt, bis es dir zu den Ohren rausläuft, und du hörst dich dir selbst deine eigene kleine verfluchte Geschichte erzählen und denkst, wie gern du wieder hier leben würdest, und das ist alles. – Nein, ist es nicht!«

»Nicht?«

Sie wandte ihm den Blick zu. Ihre Mundwinkel drifteten auseinander. Das Grinsen war fällig.

»Nein, denn du musst schnell noch zugeben, dass du tatsächlich den geheimen Auftrag hattest, auf den Wahnsinnigen Acht zu geben, weil der Verlag die schlimmsten Befürchtungen an den Tag legte. Ich denke, damit sind alle Karten auf dem Tisch.«