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Früher hatte es ihm panische Angst bereitet, zu erwachen und festzustellen, dass sein Bewusstsein einen toten Baum bewohnte. Geschichten von Edgar Allen Poe über das lebendig Begrabenwerden waren ihm in den Sinn gekommen, über Scheintote und Menschen, die so vollständig gelähmt und in ihrem Körper gefangen waren, dass die Verliese des Grafen von Monte Christo die reinsten Gesellschaftsräume dagegen waren. Niemand hatte ihm zu erklären vermocht, woher diese zeitweilige Erstarrung rührte, viel schlimmer, niemand glaubte ihm. Seine Ärzte versuchten ihm wiederholt einzureden, er bilde sich den Wachzustand lediglich ein und liege stattdessen in einem handfesten Alptraum da. Sie verwiesen auf die wenig gesundheitsfördernde Wirkung übermäßigen Alkoholgenusses und besaßen allesamt kluge Halbbrillen zu dem Zweck, ihn über den Rand hinweg strafend anzusehen. Niemand konnte sich offenbar vorstellen, wie es war, zu erwachen und zur Bewegungslosigkeit verdammt zu sein, nicht einmal stöhnen und wimmern zu können.

Anfangs war es O’Connor gelungen, sich aus seinem Gefängnis zu befreien, indem er sich in enorme innere Spannung versetzte und versuchte, wenigstens einen Fuß oder eine Hand zu drehen, nur ein winziges bisschen. War der Bann einmal gebrochen, konnte es geschehen, dass die Ketten der Lähmung plötzlich und unvermittelt von ihm absprangen und er hochfuhr, seine Finger ins Kissen grub und den nächstbesten Fleck anstarrte, heftig atmend und überglücklich, sich wieder in der Gewalt zu haben. Seit einiger Zeit jedoch gelang ihm auch dies immer seltener, also hatte er eine neue Methode entwickelt, mit dem katatonischen Schrecken fertig zu werden. Das Hirn war ein Computer, ergo probierte er einen Neustart. Wenn sein Körper streikte, musste er eben wieder einschlafen und sich der Zwischenwelt stellen, die ihn noch nicht fortlassen mochte. Sobald er aufhörte, gegen die Starre anzukämpfen, beruhigte er sich augenblicklich und empfand nur noch ein vages Misstrauen gegen den Tod, den er der Generalprobe verdächtigte, und die Befürchtung, dem erneuten Aufkommen des Schlafes einmal zu oft nachzugeben und den Planeten zu verlassen, ohne genug Spaß gehabt zu haben. Allerdings war er bis jetzt jedes Mal wieder erwacht, wenn er die Regeln erst einmal akzeptiert hatte, und so unterzog er sich auch an diesem Morgen keiner Mühe, dagegen anzugehen. Sein Bewusstsein trieb auf einer morphinen See dahin, und dort geisterte Paddy Clohessy herum wie der Fliegende Holländer und lockte ihn hinab zum dunklen Grund der Vergangenheit.

Dublin entstand in geisterhaften Farben, bevor der Himmel über dem ehrwürdigen Trinity College aufbrach und ein sonniges und sorgloses 1980 offenbarte, samt Liam mit dunklem Haar und einer Reihe von Individuen, die sämtlich zu viel tranken und zu wenig lernten.

Er hatte die Schule mit hervorragenden bis miserablen Noten abgeschlossen und war in die Uni gehievt worden wie Falstaff aufs Ross. Wirklich schlecht war O’Connor in keinem Fach gewesen, außer vielleicht in Mathematik, ein Umstand, den er zu seiner Freude mit Albert Einstein teilte. Insofern machte es ihm keine Sorge, dass er in Klassenarbeiten über integrale Gleichungen an nichts anderes denken konnte als an die Mädchen in den Reihen vor und hinter ihm, oder an die allabendlichen Exkursionen ins bleierne Licht von Stephens Green Park, wo man Menschen von ähnlich erfreulicher Lasterhaftigkeit zu Gesprächen über nationale Tugenden traf.

Sich auf höchstmöglichem Niveau danebenzubenehmen, gehörte praktisch zum Kodex der Dubliner Studentenschaft des Trinity, von der es seit Jahrhunderten hieß, sie rekrutiere sich entweder aus Rowdies oder Privilegierten oder beidem. Was anderes wollte man auch erwarten von einem College, dessen Frontgate die Polizei selbst im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert nur auf Einladung durchschreiten durfte. Und was anderes gebot die allgemein prekäre gesellschaftliche Lage zwischen Belfast im Norden und dem Rest von Europa im Süden, als das Geld begüterter Eltern mit vollen Händen auszugeben und nicht sich selbst dafür zu verachten, sondern sie!

O’Connor studierte Philosophie, Physik und Mathematik. Letztere blieb ihm nicht erspart, verlor allerdings ihren Schrecken, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie ihm völlig neue Möglichkeiten bot, vergeistigte Schönheiten an- und auszuziehen. Es gab tatsächlich ausnehmend attraktive Mädchen, die erst bei Emissionsmodellen schwarzer Löcher, Gravitationsgleichungen und Elaboraten über spektrale Verzerrungsphänomene im Umfeld von Neutronensternen jede Scheu und anschließend gleich auch das letzte bisschen Bekleidung verloren. Spätestens im ersten Jahr seines Aufenthalts auf dem Trinity hatte O’Connor den Beweis für die stets geahnte romantische und erotisierende Kraft von Wissenschaft entdeckt und beschlossen, Wissen sei sexy und ein Doktortitel mithin das beste Aphrodisiakum.

So mittelmäßig er als Schüler gewesen war, so begabt erwies er sich hier, wenngleich er Wert auf die Feststellung legte, nie in seinem Leben einen einzigen Tag für eine Prüfung gelernt zu haben. Ostentativ, wie die meisten seines Semesters, hing er in den umliegenden Kneipen herum, bevorzugt bei Kenny’s und Lincolns. Er schwang Reden für die Philosophical Society und übernahm bei den traditionellen Trinity Players in ihrem kleinen Theater am Front Square die Rollen der Schurken und Revoluzzer. Im Sommer führte er zusammen mit Kommilitonen Besucher durchs College. Es war einer dieser Tage, an dem er Patrick Clohessy kennen lernte, ein technikversessenes Großmaul, dem O’Connor Einzug in die Besetzungsliste der Players verschaffte, und Clohessy führte ihm im Gegenzug Damen von zweifelhaftem Ruf und außerordentlichen Talenten zu. Eine Interessengemeinschaft war geboren zu dem Zweck, sehr viel Alkohol zu vernichten und möglichst nichts Sinnvolles zu tun. Die Erörterung der Lage erforderte alle Kräfte. Schließlich ging es den Iren in ihrer Gesamtheit schlecht, im Gegensatz etwa zu den Engländern, denen es ja bis auf die Mehrheit gut ging. Als O’Connor und Clohessy über Pints voller Schwarzbier saßen, erwachte Eire, die grüne Insel, ein weiteres Mal aus seinem Dornröschenschlaf, rieb sich die Augen wie alle paar Jahrzehnte und stürzte sich mit Vehemenz auf die gesellschaftlichen Probleme. Wie kaum sonst wo reichten sich – anders als in England – die Traditionalisten mit den Revoluzzern die Hand. Alle fielen sich irgendwie in die Arme. Es war zu schön, um wahr zu sein, und darum war es eben vornehmlich schön.

Bis auf Belfast. Da war es schrecklich.

Folgerichtig – da sich alle einig waren im neu erstarkten Selbstbewusstsein – fokussierten sich die Dubliner Kneipengespräche auf das einzige Enfant terrible und schwarze Schaf, den Norden. Nordirland wurde nicht länger totgeschwiegen, sondern ausgiebig besungen. Da ging es wenigstens richtig zur Sache, und man konnte sich aus der Entfernung trefflich engagieren. So sehr gefielen sich die Dubliner in ihren offen geäußerten Ansichten und Kampfrufen, dass sie vergaßen, auch danach zu handeln. Jeder war König seines Pubs, und das Pub war die Welt. Was dort gesagt wurde, fand Einzug in die Chroniken des Verfalls und der Erneuerung. Wer wollte handeln? So blieb der Protest ein Bühnenspektakel und Nordirland mit seiner IRA ein kulturelles Problem, ein Gespenst, das man thematisierte und romantisierte, in Theatern, Filmen und Tonstudios auslebte, ohne sich im christlichen Bemühen um einen geordneten Lebenswandel allzu sehr davon stören zu lassen.

Solche Umstände gebaren Schwätzer wie Clohessy und O’Connor. Mit dem Unterschied, dass Clohessy aus schäbigen Verhältnissen stammte, der Vater ein Säufer und Schläger, die Mutter depressiv, dass er Armut und Elend kennen gelernt und sich an die Uni gekämpft hatte, während O’Connors Vater ein angesehener Richter und immens reich war. In England wäre der Vater Thatcherist gewesen. In Dublin war er wenigstens erzkonservativ. Seine Prinzipientreue wurde nur von seiner Oberflächlichkeit übertroffen. Was immer Liam anstellte, welche Ausfälle und Eskapaden er sich auch leistete, wurde mit Geld und guten Beziehungen aus der Welt geschafft. Was immer Clohessy anstellte, mehrte seine Probleme.