Выбрать главу

Am Trinity fanden und verließen sich die ungleichen Freunde. Sie begegneten sich im Rausch der Provokation, sympathisierten, weil es modern war, offen mit der IRA und gaben sich als potentielle Bombenleger zu erkennen. Aber während O’Connor kein wirkliches Interesse an Politik zeigte, machte sich in Clohessy dumpfe Wut breit. O’Connor schien es, als verliere der Bruder im Wort die Contenance. Clohessy entpuppte sich als extremer Nationalist und schlug ernsthaft vor, das Studium abzubrechen und der IRA beizutreten. Hinter aller Demagogie erahnte O’Connor die Bereitschaft zu tatsächlicher Gewalt, die er selbst nie in Erwägung gezogen hatte, und fühlte sich zutiefst beunruhigt. Das Leben war ein Jux, aber Clohessy machte Ernst. Dass es von Wichtigkeit ist, ernst zu sein, kaufte O’Connor allerdings viel lieber dem von ihm verehrten Oscar Wilde ab als jedem anderen. In der Folgezeit begann er den Kontakt zu Clohessy zu lockern. Und eines Morgens hieß es, Clohessy sei wegen aufrührerischer Aktivitäten von der Uni geflogen.

O’Connor suchte ihn auf. Er hatte mit der Leitung des Trinity eine mögliche Wiederaufnahme ausgehandelt, wenn Clohessy sich öffentlich entschuldigte, aber Paddy erwies sich als verstockt. Er schien sich die IRA als stellvertretenden Racheengel für alle Demütigungen auserkoren zu haben, die ihm selbst zugefügt worden waren oder von denen er meinte, er habe sie erlitten. Es waren die Orientierungslosigkeit, der Mangel an Perspektive und die Rätselhaftigkeit eines Lebensweges, der abwärts statt aufwärts führte, die Clohessy in die Isolation getrieben hatten. O’Connor versuchte ein letztes Wilde’sches Plädoyer, dass alles doch nur Spaß sei, und erhielt bewaffnete Parolen zur Antwort. Verärgert wandte er sich endgültig ab und erfuhr kurz darauf, Clohessy sei untergetaucht.

Eine Weile huldigte Liam dem Müßiggang, war lustlos und langweilte sich. Schlussendlich fehlte ihm Paddy nun doch. Immerhin war er ein redegewaltiger und unterhaltsamer Saufkumpan gewesen. Das laue Gefühl beschlich ihn, er hätte sich vielleicht ein bisschen mehr um die verirrte Seele kümmern sollen. Andererseits wollte es ihm nicht gelingen, der Sache das nötige Interesse zu zollen. Interesse war ohnehin etwas, das O’Connor schnell verließ. Sich für nichts wirklich zu interessieren, war auch darum so angenehm, weil es das wirkliche Interesse anderer auf sich zog. Er scharte neue Saufkumpane um sich, feierte wildere Partys als je zuvor und vertiefte nebenbei sein politisches Wissen. Erfreut stellte er fest, dass seine früheren Tiraden hinsichtlich der Problematik des Nordens tatsächlich auch seinen Überzeugungen entsprachen, und nahm die großen Reden wieder auf. Er pflegte seinen schlechten Ruf und forderte im offiziellen Sprachrohr der Studentenschaft den gewaltsamen Rauswurf der Engländer aus Nordirland. Weil es ihm gerade einfiel, dehnte er die Forderung gleich auch auf Schottland aus. Dessen bewusst, dass es eigentlich nur die Langeweile und eine gewisse Lebensverdrossenheit waren, die ihn zu immer provokanteren Äußerungen veranlassten, warf er dennoch mit allem um sich, was irgendwie revolutionär und despektierlich klang. Oft genug war ihm dabei, als beobachte er sich selbst aus einer gewissen Distanz. In solchen Momenten sah er einen verwöhnten Playboy, den er nicht besonders mochte, aber die Anflüge von Selbstbetrachtung hielten selten lange vor. Zu Hause wurde derweil über nichts geredet, was Althergebrachtes und Bestehendes in Frage stellte. Konflikte waren verpönt. Sein Vater war nicht gerade ein Despot, seine Mutter nicht wirklich unterdrückt. Sie lebten eher zusammen wie die bürgerliche Ausgabe der Royal Family. In der polierten Oberfläche ihres Daseins spiegelte sich die Dubliner Gesellschaft wider, darunter vollzog sich buchstäblich nichts. Liam hatte immerhin gelernt, dass man es im Leben zu etwas bringen muss und das auch kann, wenn man fleißig seine Schuhe putzt, und dass, wer alles hat, keine kontroversen Überzeugungen und Ideale braucht. Und falls doch, dann allenfalls als Spleen, wie die Weigerung des Parlamentariers Tony Gregory, eine Krawatte zu tragen, oder die Eigenart Lord Henry Mountcharles’, seine exzentrischen politischen Ansichten mit dem Tragen kurioser Socken zu unterstreichen.

Je länger Liam studierte, desto mehr begriff er, worin sein Problem lag. Er suchte nach Überzeugungen wie jemand, der einen Kleiderschrank durchstöbert, weil er noch nicht weiß, was er anziehen soll, wohl ahnend, dass Ideale aus Not und Mangel und nicht aus Überfluss erwachsen. Ihm hingegen stand alles offen, und alles fiel ihm zu. Man bescheinigte ihm überragende Intelligenz und prophezeite ihm eine beispiellose Karriere. Was immer er tat und sagte, sein Elternhaus bog es zurecht. Seine Sauf- und Prügelexzesse, seine öffentlichen Schmähungen und Beleidigungen – sein Vater deckte ihn. Er war nicht länger ein privilegierter Rowdy – er war der König aller privilegierten Rowdies!

Ein einziges Mal, nach Erscheinen des Hetzartikels gegen die Engländer und der offenen Sympathiebekundung für die IRA, hatte man Liam mit einem Verweis vom Trinity gedroht. Seltsamerweise hatte es ihn mit Befriedigung und Stolz erfüllt, aber dann lenkte ein Telefonat seines Vaters alles wieder in die richtigen Bahnen, und fortan galt Liam als unantastbar. Er war zutiefst deprimiert. Es war, als renne er beständig mit aller Kraft in eine Wand aus Gummi. Er konnte machen, was er wollte, immer gab jemand freundlich nach.

Er verlor das Interesse am Norden mit seinem unentwirrbaren Interessenknäuel aus Religion und Macht. Ideale waren hier nicht zu finden. Nichts, wofür es sich lohnen würde, gewaltsam aus dem Garten Eden auszubrechen, in den das Schicksal ihn hineinbestimmt hatte. Genau das, fühlte Liam, hätte geschehen müssen, um sich endlich lebendig zu fühlen. Nur, dass es keinen wirklichen Grund gab, das Paradies zu verlassen, weil damit einzig eine Verschlechterung der Lebensumstände einhergegangen wäre und nichts sonst.

Und so, im selben Jahr, als Liam O’Connor ohne sonderliches Engagement summa cum laude promovierte, beschloss er – womit auch immer er in Zukunft unnötigerweise seinen Lebensunterhalt verdienen würde –, eines auf jeden Fall von Beruf zu werden:

Snob.

Alles Weitere verlief drehbuchgemäß. O’Connors Aufstieg vom wissenschaftlichen Assistenten zum Dozenten vollzog sich in der Hälfte der üblichen Zeit. Er wurde Professor, dann stellvertretender Leiter der Physikalischen Fakultät und widmete sich der experimentellen Forschung. Er begann, mit Licht zu experimentieren, und entdeckte die Welten der Phantasie, in denen er sein konnte, wonach immer ihm der Sinn stand. Tief im Innern sehnte er sich mehr denn je danach, etwas wirklich Sinnvolles zu tun, nach Überzeugungen und Idealen, aber er kam über das bloße Herumexperimentieren mit Standpunkten nicht heraus. Hofiert und geachtet, erklärter Mittelpunkt aller Stehempfänge, verzweifelte er zunehmend an der Erkenntnis seiner Charakterschwäche und der berühmten »unerträglichen Leichtigkeit des Seins« – das allerdings mit allem Komfort.

Seine Zynismen wurden gewählter. Er legte sich einen gepflegten Nihilismus zu, kultivierte sein Alkoholproblem und stürzte sich verstärkt in seine Experimente. Die etablierte Welt der Schönen und Reichen widerte ihn ebenso an, wie sie seine Bühne darstellte. Er wusste nur zu gut, dass er ohne das Publikum, das er verachtete, nicht existieren konnte, also bedachte er es mit Spott auf eine Weise, dass es ihn selbst dafür noch bewunderte. Er begann einen zweiten Anlauf als Schriftsteller, verfasste wissenschaftliche Sachbücher und dann utopische Romane. Wie nicht anders zu erwarten, reüssierte er auch hier.

Liam fühlte sich einsam. Er sammelte Eigenschaften, während sein wissenschaftlicher Werdegang ihn der Nominierung für den Physik-Nobelpreis entgegentrieb. Sowohl in seinen wissenschaftlichen Arbeiten wie in seinen Büchern hatte er sich dem Abstrakten verschrieben, und man überhäufte ihn dafür mit Anerkennung und Auszeichnungen. Auch sein Blick auf die Welt wurde immer abstrakter, nüchtern analytisch das Werden und Vergehen der Menschheit betrachtend und die individuellen Irrtümer ihrer Vertreter. Seine Intelligenz kreiste um sich selbst. Er trank mehr denn je, ohne betrunken zu werden. Lord Henry, das Enfant terrible der viktorianischen Salons im Dorian Gray, war ihm Vorbild, und er suchte nach dessen Authentizität, wohl wissend, dass sie ihm abging. Bei allem wissenschaftlichen und intellektuellen Schliff fehlte ihm etwas Entscheidendes, das Oscar Wilde ausgezeichnet hatte – ein Anliegen. Und was das Fatale war, es fehlte ihm nicht, weil er keines haben wollte, sondern weil ihm keines einfiel.