Выбрать главу

Wie immer sein Leben seitdem verlaufen ist, es muss ihn an einen Punkt geführt haben, wo es notwendig wurde, den Namen zu wechseln und das Land zu verlassen.«

»Klingt nach ziemlich krummen Wegen.«

»Ich kann nicht beurteilen, ob Paddy in Schuld verstrickt ist. Natürlich hätte ich ihn auffliegen lassen können, aber wozu? Möglich, dass er endlich seinen Frieden gefunden hat.« O’Connor schüttelte den Kopf. »Nein, ich sage mir einfach, dass Paddy verschollen bleibt. Was Mr. O’Dea angeht, so haben wir nichts mit ihm zu schaffen.«

Als sie im Maritim anlangten, verspürte Wagner unerwartet eine merkwürdige Distanziertheit zu O’Connor. Sie erwuchs weniger dem Erlebten als dem Unausgesprochenen und der Angst, etwas könne sich zwischen sie senken und den Zustand vor letzter Nacht wiederherstellen. Mit dem Unterschied, dass ihr nun etwas fehlen würde, das sie vorher nicht vermisst hatte. Sosehr es sie drängte, ihm in sein Zimmer zu folgen und wahr werden zu lassen, was sie im Rausch des Uisge Beath zur Wahrheit erklärt hatten, so denkbar unpassend schien ihr der Moment. Sie begleitete ihn vor die Zimmertür und stand unschlüssig neben ihm, während er aufschloss.

Bleib locker, dachte sie. Es ist nichts. Wir haben keinerlei Verabredungen miteinander getroffen. Nichts, was sich vollziehen müsste.

Aber plötzlich fühlte sie sich verkrampft. Die federleichte Bereitschaft, die noch am Morgen ihr Denken beherrscht hatte, stahl sich davon und machte einem hohlen Realitätsempfinden Platz, mit dem man Träume beim Aufwachen entgleiten lässt. Mittlerweile war sie wieder nüchtern und der Kopfdruck gewichen. Mattigkeit überkam sie. Die letzten vierundzwanzig Stunden machten sich in die Unwirklichkeit davon. In diesem Moment wartete sie einfach nur an der Seite eines ungemein gut aussehenden Mannes darauf, dass dieser die Tür aufschließen und sich mit einem »Dann bis später, Frau Wagner« verabschieden würde, und es hätte sie nicht einmal erstaunt, dass er sie wieder siezte.

Alles schien so weit weg zu sein. Die Nacht. Das exzessive Trinken, die Umarmungen, die Küsse. Das Teilen von Geschichten auf O’Connors Bett, das Hinauszögern, der lustvolle Verzicht. Aber das Buch war wieder geschlossen worden, ihr gemeinsames Kapitel daraus gestrichen. Wenn sie an diesem Nachmittag mit ihm schliefe, würde sie den Traum zerstören. Die Zwanghaftigkeit der Aufeinanderfolge war schal. Sie besagte, dass im Drehbuch jetzt die Stelle kam, an der sie miteinander Sex haben würden. Sie hatten eine knappe Stunde, keiner von ihnen andere Pläne, als diese Zeit irgendwie rumzubringen. Es gab keine Paddys mehr zu suchen und keine unvorhergesehenen Besäufnisse, in die man geraten konnte. Es gab keinen Kopf mehr zu verlieren. Nichts war mehr unvorhergesehen. Hierin lag das Problem, im Logischen der Situation, in der plötzlichen Kalkulierbarkeit. Sie nahm dem Augenblick jeden Reiz.

Die Nacht hatte ein wundervolles Vielleicht hervorgebracht. Diese eine Stunde erzwang ein Ja oder Nein.

Sie betrachtete ihn von der Seite und fühlte einen Stich. Er sah phantastisch aus. Wie gern wäre sie ihm einerseits gefolgt. In dieses Zimmer, nach Dublin, nach Shannonbridge, in das nächstbeste Universum! Wie unmöglich schien es ihr hier und jetzt. War sie verrückt? Was sollte sie tun? Ginge sie nicht mit ihm, bestand die Gefahr, dass es ein Traum blieb und sie von nun an wieder auseinander drifteten, unfähig, sich ein weiteres Mal fallen zu lassen. Nichts wollte sie weniger. Aber am anderen Ende der Skala lauerte die Angst vor der Enttäuschung, dass ausgerechnet der Zauber, den die Negierung aller Regeln erzeugt hatte, in einer Konsequenz aus Schweiß und verknautschten Bettlaken enden könnte, ohne dass sich Glück einstellen wollte.

Keine der beiden Möglichkeiten gefiel ihr, und am wenigsten gefiel ihr die bleierne Hilflosigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie sah an sich herunter und kam sich vor wie ihr eigener größter Feind.

Es ist noch etwas anderes mit im Spiel, dachte sie. Etwas, das ich mir ungern eingestehe. Die Furcht, an diesem Nachmittag nicht mehr die schönste Frau der Welt zu sein.

Im herandämmernden Tag war sie es gewesen. Aber was, wenn er ebenso empfand wie sie?

Sein Zögern wäre vernichtend. Sie würde nicht einmal wissen wollen, warum er zögerte. Sie wäre nicht mehr die schönste Frau der Welt. Auch das wäre die Konsequenz, egal, wie sie sich entschied.

Diese verdammte Stunde machte alles kaputt!

O’Connor schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Er verharrte, während die Tür zu seinem Zimmer langsam aufschwang und ihren Blicken das Bett preisgab, auf dem sie für Stunden hinweggeschwebt waren. Eigentlich fehlten nur noch Scheinwerfer, Kameramänner und der Regisseur.

Kika und Liam. Action!

»Tja«, sagte sie.

Er zog ein Gesicht. »Es ist zu blöde, Kika. Ich würde dich wahnsinnig gern auf einen Schluck hereinbitten, aber es geht nicht.«

Sie stutzte.

»Ich hatte nicht vor… ich meine .«

»Sie warten auf meinen Anruf. In Dublin. Ich habe versprochen, ein paar Berechnungen anzustellen für ein Experiment, das sie im Institut durchführen wollen, und da muss ich wohl oder übel ran.«

»Aber«, sagte sie ein bisschen hilflos, »zur Lesung wirst du doch fertig sein. Oder?«

»Versprochen.« Er sah sie an. »Ich werde eine halbe Stunde lang auf meinem Laptop herumhacken und eine weitere halbe Stunde am Telefon hängen. Aber spätestens um halb sechs stehe ich Gewehr bei Fuß.« Er zögerte. »Bist du böse?«

Wagner schüttelte den Kopf.

»Nein. Überhaupt kein Problem.«

»Gut. Bevor du gehst – hast du noch einen von diesen wunderbaren Küssen übrig?« Er grinste wie die Katze, die die Nachtigall gefressen hat. »Der von heute Morgen hält nicht mehr lange vor.«

Sein Blick fing sie ein. Zog sie zu sich heran und schickte sie zugleich fort. Wagner fühlte ihre Erstarrung weichen und abfließen wie Schmelzwasser. Erst jetzt merkte sie, dass ihre ganze Muskulatur sich unmerklich verspannt hatte. Sie lächelte, ließ sich gegen ihn sinken und schloss die Augen.

Da war es wieder. Das Heißkalte.

»Habe ich dich heute Abend mal ein Stündchen für mich?«, flüsterte sie.

»Was hältst du von einer kleinen Ewigkeit?«, gab er zurück.

»Auch gut.«

Er ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten.

»Schade«, sagte er. »Aber jetzt muss ich arbeiten. Wahrscheinlich werde ich mich grauenvoll verrechnen. Ich werde Pi mit eins-komma-acht-sieben angeben und Lichtwellen im rotblonden Spektrum suchen.«

»Bis gleich«, sagte sie.

Mit jedem Schritt, den sie zurückging zu den Aufzügen, fühlte sie ihr Herz wieder fröhlicher werden.

Er hatte überhaupt keine Zeit!

Er musste arbeiten. Es gab nichts zu entscheiden. Er hatte zu tun!

Sie beschloss, die Treppe zu nehmen statt den Fahrstuhl. Alles kehrte schlagartig zurück, das Herzklopfen, die Aufgeregtheit. Und nur der Umstand, dass es keines gab, hinderte sie daran, das Geländer hinunterzurutschen und mit einem fulminanten Plumps auf den Hintern in der Lobby zu landen.

Die Zeit war wieder auf ihrer Seite.

ABEND

Wenige Moleküle eines Dufts: Gefahr!

Winzige Beinchen tasten mit gemessenen Schritten den Boden ab. Die erste Ameise schickt eine komplexe Serie von Düften an die anderen – eine Botschaft, dass eine räuberische Pflanze wenige Körperlängen voraus auf achtlose Insekten lauert, um sie zwischen ihren Kiefern aufzulösen und in aromatischen Schaum zu verwandeln.

Hektischer Austausch. Eine der Kundschafterinnen schlägt vor, den vorgegebenen Pfad zu verlassen und das unbekannte Terrain zur Rechten zu erforschen. Würden sie sich in Schlangenkopfformation bewegen, könnten sie etwaigen Gefahren am besten begegnen. Mehrere Kundschafterinnen würden der Ameisenschlange vorangehen, den Boden beschnuppern und den Himmel sondieren, um eine Nachricht an den Zug abzugeben und sich hinten einzuordnen. Augenblicklich würden die nachfolgenden Ameisen einen neuen Kopf bilden. Durch dieses Rotationsprinzip behielte der Zug stets eine hypersensible Nase und käme schnell und sicher voran.