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Der Vorschlag wird akzeptiert, und etwa dreitausend rote Wanderameisen schicken sich an, den Bewohnern einer Farm den Garaus zu machen.

Spätestens hier begannen sich mehrere Leute im Auditorium zu kratzen. O’Connor hatte sein neues Buch über Ameisen geschrieben. Es war ein wissenschaftlicher Thriller, in dem die Menschen ziemlich schlecht wegkamen. Die Buchhandlung war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Dreihundert Leute wollten hören, wie Mensch und Insekt gegeneinander antraten. Nicht im Stil herkömmlicher Monsterschinken, sondern angelehnt an die letzten Erkenntnisse der Biogenetik. Seinen Schrecken bezog das Buch aus seiner Denkbarkeit. Wie alle belletristischen Veröffentlichungen O’Connors war es hervorragend recherchiert, und ebenso wie alle seine Bücher gewährte es einen Blick auf O’Connors distanzierte Weltsicht.

Wagner lehnte sich zurück und lauschte der sonoren Stimme, ohne auf den Inhalt zu achten. Sie kannte das Buch. Wie immer versuchte O’Connor, die Menschheit aus größtmöglicher Höhe wahrzunehmen. Für ihn war sie ebenso eine Spezies wie die Ameisen mit ihren Königinnen, ihren Städten und ihren Kasten. Vordergründig ergriff er keine Partei, aber Wagner wusste es inzwischen besser. Er liebte es, Menschen uninteressant zu finden und genau dies seinem Publikum mitzuteilen. Mit zynischer Genugtuung ließ er den Homo sapiens gegen die kühle Logik des vielbeinigen Kollektivverstands alt aussehen. Die Menschen waren dumm, die Ameisen klug. Ausnahmen bestätigten die Regel, ansonsten dominierte O’Connors Abneigung gegen den überwiegenden Teil seiner eigenen Spezies jegliches Mitgefühl.

Zumindest sollte es so scheinen.

Sie fragte sich, was ihn so sehr an der Rolle des Menschenverächters reizen mochte. Die Geschichte der Literatur war voller großer Misanthropen. Die meisten hatten sich durch enorme Intelligenz ausgewiesen und den beschränkten Horizont der Massen verachtet, das Rohe und Dumpfe, das sie anwiderte. Andere waren keine eigentlichen Menschenfeinde, sondern Forscher und Analytiker, deren Geist es ihnen gestattete, übergreifende Strukturen und Gesamtzusammenhänge zu erkennen. Wer sich an die Erklärung des Universums wagte, verlor den Einzelnen zwangsläufig aus den Augen. Je größer der bekannte Kosmos wurde, je komplexer die Theorien über expandierende, kollabierende und inflationäre Universen bis hin zu der Überlegung, dass dieses ganze unfassbare Gebilde nur eines von unzähligen anderen in einer Art kosmischem Schaums sei, umso weniger Sinn ergab die Vorstellung eines Gottes, der den Bewohnern des dritten Planeten eines unbedeutenden

Sonnensystems im Provinzwinkel einer Galaxis mittlerer Größe individuell zugetan war. Je weiter menschliches Wissen und Ahnen sich aufblähte, desto unbedeutender erschien ausgerechnet, wer dies alles zu denken vermochte – der Mensch. Warum sollte Gott – sofern er existierte – einen Haufen schlecht erzogener Gene lieben, die sich beständig an den Kragen gingen und nebenher ihren Planeten ruinierten? Warum sollten ausgerechnet die Bewohner einer von Milliarden und Abermilliarden Welten dem Schöpfer des Ganzen so wichtig sein? Der nächste Stern zur Erde, Proxima Centauri, lag dreiundzwanzig Billionen Meilen entfernt, vier Lichtjahre, und er war nur einer von einigen hundert Milliarden weiteren Sternen, die zusammen das ergaben, was die Menschen Milchstraße nannten und was den winzigsten Teil einer Struktur aus Galaxienhaufen und Superhaufen ausmachte, die wie Tautropfen auf einem virtuellen Netz hingen, gesponnen um schwarze Räume voll rätselhafter, unsichtbarer Materie. Wessen Gedanken begonnen hatten, diese Regionen zu bereisen oder die der Nanouniversen, des Allerkleinsten, der Moleküle und Atome, der Lichtwellen und Photonen, so wie O’Connor, der mochte an einen Schöpfer glauben – aber kaum daran, dass dieser die Spezies Mensch besonders wichtig nahm, vielmehr in seinem großen Experiment vielleicht gar nicht gemerkt hatte, wie sie plötzlich schimmelpilzartig einen kreisenden Brocken überzog und sich ihrer selbst bewusst wurde.

Warum aber sollte dann der Mensch mehr wert sein als die Ameise? Welche Arroganz trieb etwa einen besoffenen Fußballrowdy von rudimentärer Intelligenz und ständiger Bereitschaft zu Gewalt, der in seinem Leben noch nichts Sinnvolles geleistet hatte, sich für wichtiger zu halten als einen Blauwal oder einen Marder oder eine Heuschrecke?

Wagners Zeigefinger fuhr den schmalen Nasenrücken entlang. Etwas fiel ihr ein, das O’Connor am Nachmittag gesagt hatte, eine

Bemerkung über sein Verhältnis zu Paddy Clohessy damals in Dublin:

»Ich hätte mich nicht dazu durchringen können, ihn für so wichtig zu erklären.«

Interessant. Was würde denn passieren, wenn O’Connor jemanden für wichtig erklärte?

Liam O’Connor war kein Menschenfeind, das hatte sie deutlich gespürt. Indem er sich jede Mühe gab, den biblischen Anspruch auf die Untertanmachung der Welt für nichtig zu erklären, schien es Wagner eher, als versuche er nur einer zu sein. Ihr war unklar, zu welchem Zweck. Seine Überheblichkeit brachte ihm zweifellos das Interesse der Öffentlichkeit ein. Er war ihr Hofnarr, ihr Götze, das Objekt ihres Abscheus und ihrer Begierde. Sie alle fragten sich, wie ein so blendend aussehender Mensch so bösartig schreiben konnte. O’Connor tat nichts, um diese Frage zu beantworten, weder den Leuten noch sich selbst. Jede spitze, geistreiche, spöttische, süffisante oder charmante Bemerkung, die er zum Besten gab, verschleierte sein Wesen nur noch mehr. Aber was würde passieren, wenn er seine Menschlichkeit offenbarte, seine Zuneigung, seine Schwäche? Wenn er herabstieg und jemandem sein Herz schenken würde, falls er das überhaupt konnte?

Die Leute wären enttäuscht.

Denn eigentlich wollte niemand eine Antwort. Sie wollten ihn so haben, wie er war, so wie sie den Schauspieler Klaus Kinski hatten haben wollen, der sein Publikum öffentlich beschimpfte, so wie sie einen David Letterman brauchten, der sich über sie mokierte, einen Harald Schmidt, der sie verachtete, einen Stefan Raab, der sie verarschte.

Das war es.

Niemand wollte einen anderen O’Connor als den, der dort oben auf dem Podium saß und von Ameisen erzählte, von Säure, Gift und

Tod. Der im Tonfall leichter Unterhaltung verkündete, was kaum jemand, wahrscheinlich niemand im Publikum verstand, und was Wagner in diesen Minuten sonnenklar wurde: Dass sie ihn alle am Arsch lecken konnten.

Plötzlich verspürte sie Sehnsucht nach ihm und die Gewissheit, dass ihre Geschichte kein Happy End nehmen würde.

Einen Moment lang war sie tieftraurig.

Andererseits, warum sollte ihre Geschichte überhaupt ein Ende haben? War Happy End nicht nur ein Wort dafür, dass der Film aufhörte, weil es nichts mehr zu erzählen gab? Alles kam zum Stillstand. Das Abenteuer war durch. Von nun an wurde es piefig und beschaulich, kannte man seine Zukunft bis zum letzten Atemzug.

Wie entsetzlich langweilig!

Ob ihre Geschichte zwei Tage, zwei Jahre oder ein Leben lang dauern würde, was spielte das für eine Rolle? Hauptsache, sie fand statt.

Elende Theoretikerin, dachte sie. Dann lass sie auch stattfinden.

Oben auf dem Podium war O’Connor zum Ende seines Vortrags gekommen. Schlangen formierten sich vor seinem Pult, weil er versprochen hatte, im Anschluss noch mehr Bücher zu signieren. Wagner ging hinüber zu der kleinen Bar, die man gekonnt in die Landschaft aus Büchertischen und Regalen eingefügt hatte, und bestellte ein Kölsch. Es war acht Uhr durch. Für halb neun hatte sie einen Tisch in Marios Trattoria reserviert, einem italienischen Restaurant im Belgischen Viertel Kölns mit einem hübschen Garten vor der Tür, das für seine ausgezeichnete Pasta gerühmt wurde. Das Team der Buchhandlung, das die Lesung organisiert hatte, war eingeladen sowie zwei Journalisten, beide Vertreter der Neven-DuMont-Gruppe. Kölns Presselandschaft war monopolistisch geprägt. Die drei maßgebenden Tageszeitungen entstammten demselben Stall, ernst zu nehmende Konkurrenz war nicht in Sicht. Vielleicht darum brachten sie alle einen mehr oder weniger inspirierten und gut aufgelegten Kulturteil ins Blatt, weil Tick, Trick und Track nun mal keinen anderen als diesen einen Onkel Donald hatten, um dessen Gunst sie wetteifern mussten.