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Sie suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Schminkspiegel, als sie aus den Augenwinkeln jemanden bemerkte. Im selben Moment verschwand die Gestalt in der Menge der Wartenden und Aufbrechenden. Was blieb, war ein verschwommener Eindruck von Paddy Clohessy.

Wagner stutzte. Ihr Blick suchte die Umstehenden ab. Hatte sie wirklich Paddy Clohessy gesehen?

Sie verließ die Bar und ging langsam durch die Menge, schaute sich genauer um. Dann trat sie hinaus auf die Straße.

Sie musste sich geirrt haben. Ihr Hirn hatte Clohessys spitze Nase und das wirre Haar gespeichert. Jemand, dessen Äußeres ähnliche Merkmale aufwies, hatte ihr Erinnerungsvermögen genarrt.

Nachdenklich ging sie zurück und gesellte sich zu O’Connor, der gerade von Kuhn mit Beschlag belegt wurde. Der Lektor war damit befasst, ihm Leute zuzuführen, die ihm ihre Bücher zum Signieren hinhielten wie Opfergaben. Er redete auf sie ein und pries O’Connors jüngstes Werk in einer Weise, dass es irgendwie klang, als habe er es selbst geschrieben. Wagner versuchte zu ignorieren, dass er eine beigefarbene Strickkrawatte über einem stahlblauen Feinkordhemd trug.

»Dr. O’Connor«, sagte eine ziemlich hübsche Mittvierzigerin gerade. »Wie schaffen Sie es nur, dass Ihre Figuren mich so sehr berühren? Diese junge Farmerin, von der Sie vorgelesen haben, die den Kampf gegen dieses scheußliche Gekrabbele aufnimmt, sie ist so… menschlich… so warm… fast so wie .«

»Ja?«, sagte O’Connor lauernd.

»Wie ich!«, strahlte sie. »Ja, ich habe mich tatsächlich in ihr wieder gefunden! Als hätten Sie über mich geschrieben!«

»Das freut mich«, sagte O’Connor. »Sie wird gefressen.«

Die Frau schwieg. Sie nahm ihr Buch in Empfang, schlug es auf und betrachtete ehrfürchtig O’Connors lieblos hineingekritzelte Unterschrift.

»Siehst du, Kika«, sagte O’Connor und lächelte dünn.

»Ich sehe«, erwiderte sie.

Zwischen ihnen spannte sich das Band des Einverständnisses.

»Okay.« Kuhn zog die Nase hoch und stellte sich mit dem Rücken zu den restlichen Gästen, so dass er O’Connor gegen sie abschirmte. Offenbar hatte er beschlossen, dass es jetzt genug sei. »Ich habe Hunger. Was ist los, gehen wir essen? Die scharren hier ohnehin schon mit den Füßen. Können’s wahrscheinlich kaum erwarten, sich von uns die Makkaroni bezahlen zu lassen.«

»Wiederholen Sie das«, grinste O’Connor. »So, dass sie’s hören. Es wäre mir ein Kontingent Champagner wert.«

»Wenn das eine Mutprobe sein soll…«

»Es ist albern«, sagte Wagner. »Außerdem würde man Ihnen den Rüpel nicht verzeihen. Liam ist ein Scheusal und weiß das ganz genau.«

»Ich hatte nicht vor, mich darauf einzulassen«, stotterte der Lektor.

»Gut. Ich muss Liam etwas sagen.«

Kuhn blickte sie böse an. »Unter vier Augen, schätze ich. Meinetwegen. Wir sehen uns draußen.«

Er schob in aller Gemütsruhe sein Hemd zurück in die Hose, das im Laufe zweistündigen Räkelns immer mehr zum Vorschein gekommen war, ging rüber zu einer der Buchhändlerinnen und begann, auf sie einzureden.

»Was gibt’s?«, fragte O’Connor.

»Liam, ich…«

Ein junger Mann schob sich zwischen sie und hielt ihm ein aufgeschlagenes Buch unter die Nase.

»Können Sie reinschreiben ›Für Gisela zum Geburtstag‹?«

O’Connor starrte ihn an.

»Nein.«

»Aber…«

»Lernen Sie anzuklopfen. Das geht auch ohne Tür.«

Er schob den Mann beiseite, hakte sich bei Wagner ein und zog sie ein Stück vom Lesetisch weg. Der Junge sah ihnen hinterher, als wäre der Schriftsteller seiner verdammten Pflicht und Schuldigkeit nicht nachgekommen. Dann knallte er das Buch demonstrativ auf einen Stapel Lexika und stapfte nach draußen.

»Sie sind entweder hörig oder unverschämt«, seufzte O’Connor. »Wenn ich die Unverschämten abserviere, werden die Hörigen noch höriger. Es ist langweilig, Fans zu haben, Kika. Du wolltest mir sagen, dass wir es hier und jetzt treiben? Ich stimme zu. Was noch?«

»Liam, kann es sein, dass Paddy Clohessy hier gewesen ist?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich will es nicht beschwören, aber mir war, als hätte ich ihn gesehen.«

O’Connor zog die Brauen zusammen.

»Wann?«

»Gerade. Möglich, dass ich mich irre. Jemand ging an mir vorbei, ich dachte, er wäre es. Ich bin hinterhergegangen, aber dann war er plötzlich verschwunden.«

»Und du hast ihn deutlich gesehen?«

»Nein.« Sie zögerte. »Um ehrlich zu sein, es war eher so ein flüchtiges Deja-vu. Egal. Wahrscheinlich irre ich mich tatsächlich.«

»Paddy war immer schon unberechenbar«, sagte O’Connor. »Es würde also zu ihm passen. Aber warum sollte er hier aufkreuzen, um wortlos wieder zu verschwinden?«

»Du lieber Himmel! Das fragst du mich?«

O’Connor ließ ein kurzes Schweigen vergehen. Dann sagte er: »Wenn überhaupt, Kika, hast du Mr. Ryan O’Dea gesehen. Das ist ein Mann, der am Flughafen arbeitet und der uns beiden nicht besonders sympathisch war. Wir kennen ihn nicht. Ich kenne ihn nicht. Und weil wir einen solchen Menschen auch nicht kennen lernen wollen, folgen wir ausnahmsweise dem Magen Franz Maria Kuhns und gehen essen.«

Gegen 22.30 Uhr kehrten sie ins Maritim zurück. O’Connor hatte Wagner zu einem winzigen Grappa überreden können, danach hatte sie abgewunken. Zwei durchgesoffene Nächte waren eine zu viel. Aber auch O’Connor legte erstaunliche Zurückhaltung an den Tag. Wagner schätzte, er tat es mit einer gewissen Rücksicht auf ihre geheime Mission im Dienste des Verlags. Sie war sicher, dass seine ursprüngliche Intention, nachdem er einmal das Kindermädchen in ihr gewittert hatte, darin bestanden hatte, sie in einer aufreibenden Machtprobe zu atomisieren und in alle Winde zu schicken. Aber seit letzter Nacht hatte sich einiges geändert. Sie waren Verbündete, und Verbündeten fiel man nicht in den Rücken.

Mario war wie üblich exzellent. Wagner schickte O’Connor über Vitello tonnato, Tagliatelle mit Scampi und Limonensorbet Blicke, denen er eindeutige Antworten folgen ließ. Sie erreichten Wagner unterhalb der Tischplatte, ohne von einem der anderen bemerkt zu werden, und sie genoss den Dialog der Berührungen, entzückter denn je, mit einem Paar endlos langer Beine gesegnet zu sein.

O’Connor war unterdessen die Aufmerksamkeit selbst. Während seine Zehen ihre Waden erwanderten und das weiche Terrain ihrer Oberschenkelinnenseiten für Irland in Besitz nahmen, ließ er den Journalisten und Buchhändlern gegenüber Artigkeiten vom Stapel, dass ihm Kuhn gelegentlich besorgte Blicke zuwarf, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht fälschlicherweise einen Doppelgänger mitgenommen hatten und der echte O’Connor zur selben Zeit in den nächsten Eklat ausbüxte.

Es war zu schön, um wahr zu sein.

Um kurz nach zehn hob Wagner die Versammlung auf mit der Bemerkung, O’Connor habe ein volles Programm hinter sich und ein noch volleres vor sich. Dem Physiker entging der Doppelsinn keineswegs, die anderen quittierten den Abbruch mit Verständnis. Wagner atmete auf. Sie hätte ihnen kaum erklären können, dass die Pressereferentin und der Autor nach ausgiebigem Füßeln nunmehr den Wunsch verspürten, auch andere Extremitäten in ihren privaten Diskurs miteinzubeziehen, und zu diesem Zweck beabsichtigten, eine bestimmte Suite im Maritim aufzusuchen. Kuhn zuliebe beschlossen sie, den gefällig verlaufenen Abend mit einem Drink an der Hotelbar zu krönen, was dieser mit Genugtuung aufnahm. Er tat Wagner ein bisschen leid, weil sie ihn so offenkundig außen vor gelassen hatten bei ihrer kleinen Exkursion zum Flughafen. Auf der Rückfahrt von Mario schlug sie O’Connor darum vor, ihn wieder mitspielen zu lassen und ihm von Paddys Doppelexistenz zu erzählen.