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Ganz gleich, was ich tat, wo immer ich war, wen immer ich traf, augenblicklich kreisten meine Gedanken um die fatalste aller Möglichkeiten. Die Vorstellung wurde zur fixen Idee: Was muss in deinem Hirn, deinem natürlichen Regulativ passieren, dass du jemanden vor ein Auto stößt, ihn erstichst, ihn oder dich verstümmelst, folterst, umbringst? Wie weit bist du davon entfernt? Vom Bösen, meine ich! Beziehungsweise ist es überhaupt das Böse und nicht einfach nur eine besondere Form der Freiheit? Und wenn ja, wie konnte ich mich befreien? Von diesem Druck, der unerbittlich zunahm!«

Clohessy machte eine Pause. Sein Blick endete wenige Zentimeter vor seinem Gesicht.

»Gut, ich fragte mich natürlich, ob ich verrückt sei. Ich saß mit dieser Frau am Tisch, wir aßen, und zugleich stellte ich mir vor, wie ich ihr die Klinge über die Kehle zog. Ganz klar, ich musste verrückt sein!

Aber es kam mir nicht so vor. Ich wollte sie ja nicht ermorden. Ich liebte sie. Ich empfand Panik vor dem Moment, da ich meine Beherrschung verlieren und etwas Grauenvolles tun würde, um das zu zerstören, was ich liebte, und zugleich war da eine unbändige Kraft, die mich trieb, es endlich zu tun, um nicht über dem Schrecken der Hypothese den Verstand zu verlieren. Es heißt, man soll seine Grenzen kennen, das ist Unsinn. Sie zu kennen heißt, sie überwinden zu wollen. Das Problem ist nur, es gibt kein Zurück. Einmal deinem inneren Dämon nachgegeben, und du fährst geradewegs in die Hölle.«

Er wandte O’Connor sein Gesicht zu und lächelte.

»Ich glaube, Liam, du hast diese Angst vor dir selbst nie gehabt. Den meisten Menschen ist sie fremd. Das hat uns unterschieden. Du warst zu jeder Zeit weit davon entfernt, mit begangenem Unrecht leben zu müssen. Bei dir war alles nur Spaß. Unter dir hätte es nie eine französische Revolution gegeben, keine Meuterei auf der Bounty, keinen bewaffneten Kampf gegen Imperialismus, Ausbeutung und Unterdrückung. Du magst dich mit dir gelangweilt haben, aber du hast nie unter dir gelitten.«

»Und ich habe nie jemanden ermordet oder in die Luft gesprengt.«

»Auch das ist wahr.«

O’Connor sah hinaus in das vorbeiziehende Schwarz.

»Warum sind wir hier, Paddy?«, fragte er.

»Warum? Meine Geschichte verlief anders als deine. Auch eine dieser Kleinigkeiten. Eine minimale Abweichung in unserem charakterlichen Profil, eine Prise Schicksal, ein Maß an Wut, das du nie kennen gelernt hast. Wir differierten um ein µm und drifteten Lichtjahre auseinander. Das gleiche überragende Talent, nur dass aus dir ein angesehener Forscher mit literarischen Ambitionen wurde und aus mir ein Geächteter. Ich habe mich in den Dienst eines Ideals begeben und verloren. Du hast dich der Bürde eines Ideals verweigert und gewonnen. Darin liegt keine Logik und keine Moral, nur eine kuriose Verdrehung, die einem den Glauben an die Menschheit nehmen könnte, wenn es irgendeine Relevanz hätte. Am Ende stehst du hier in deinem piekfeinen Anzug und hast dir einen Namen gemacht. Ich habe mir ebenfalls einen Namen gemacht, nämlich einen neuen. Keiner dieser Namen steht für das, was wir sind. Du hast irgendwie alles richtig angepackt. Ich habe jeden erdenklichen Fehler begangen und überlebe, weil ich mich verleugne. Diese neue Existenz ist meine letzte Chance. Ich wollte dir nur sagen, dass Ryan O’Dea einen guten Job macht und nicht mehr jede Nacht schweißgebadet aufwacht, weil er in ständiger Angst lebt, erschossen zu werden. Dein Besuch heute hätte eine Freude sein müssen für Paddy Clohessy, aber Paddy ist tot. Er fiel einer Reihe von Dummheiten zum Opfer, die ihn nichts Richtiges und nichts Gutes tun ließen.

O’Dea möchte hingegen seine Ruhe. Verstehst du, was ich meine?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Ich dachte, es wäre nur fair, unsere gemeinsame Geschichte zu einem Ende zu bringen«, fuhr Clohessy fort. »Ich war in der Buchhandlung, du hast mich nicht gesehen, schätze ich. Mir fiel auf, wie weit du von jeder Lebendigkeit entfernt bist. Und von jedem wirklichen Schmerz. Von dir geht die Kälte der Rechtschaffenheit aus, und ich beneide dich darum. Aber ich würde nicht mit dir tauschen wollen. Ich kann mir einen Tausch nicht mehr vorstellen, nicht einmal mehr, irgendetwas mit dir auszutauschen. Nichts ergäbe einen Sinn. Nicht einmal mehr, ein Bier mit dir zu trinken.«

»Was hat dich bloß in diese sinnlose Wut versetzt?«, fragte O’Connor nach einer Weile. »Wir haben uns auf dünnes Eis begeben. Der Reiz lag darin, draufzubleiben, nicht einzubrechen.«

Clohessy zuckte die Achseln.

»Ich sagte ja, für dich war es ein Spiel. Außerdem erinnere ich mich an Tage, als du froh gewesen wärest, einzubrechen, um selbst wieder rausfinden zu müssen aus dem klammen Loch. Schon vergessen? Den Überdruss, die Sinnsuche? Aber ich sehe, dass du ein hundertprozentiger Sohn deines Vaters geworden bist. Du hättest die Kronjuwelen klauen können, dir stand immer alles offen.«

»Dir etwa nicht? Unsinn, Paddy. Ich hatte nichts, was du nicht auch gehabt hast. Du wärest ein brillanter Physiker geworden!«

Clohessy lachte leise.

»Ich bin ein brillanter Physiker geworden, Liam. Dafür haben sie begonnen, mich zu jagen. Als ich begriffen hatte, dass sich die IRA, die Ulster Freedom Fighters und die Red Hand Commandos durch rein gar nichts voneinander unterscheiden als durch Parolen, wollte ich raus aus der Sache. Aber ich hatte zu viel hübsches Spielzeug für sie entwickelt. Zu viele gute Ideen gehabt. Ich war der sprichwörtliche Mann, der zu viel wusste.«

»Du hättest es gar nicht so weit kommen lassen müssen«, sagte O’Connor zornig. Seine Worte schienen übers Wasser davonzuziehen. »Du hattest eine Zukunft, Paddy, ebenso wie ich.«

»Nein, Liam. Du hattest eine Vergangenheit, mit der man leben konnte, und ich nicht. Aber die Zukunft ist die Vergangenheit. Nichts sonst.«

MARITIM

Als O’Connor die Bar wieder betrat, waren keine zwanzig Minuten vergangen. Er setzte sich wortlos zwischen Wagner und Kuhn, nahm dem Lektor das Glas aus der Hand und leerte es in einem Zug.

Kuhn sah ihm mit ausdruckslosem Gesicht zu.

»Okay«, sagte er. »Nur, dass ich’s kapiere. Die eine verabschiedet sich ins Bett und taucht sofort wieder auf, damit mir die Zeit nicht lang wird. Der andere geht ebenfalls schlafen, um eine halbe Stunde später meinen Cognac auszutrinken. Nichts davon gibt mir das Gefühl, es hätte was mit mir zu tun. So weit richtig?«

»Richtig«, sagte O’Connor.

Er führte die Finger zu den Schläfen und begann sie mit kreisenden Bewegungen zu reiben. Dann blickte er auf und sagte langsam:

»Ich habe gerade mit einem sehr gefährlichen Mann gesprochen.«

Wagner seufzte. In O’Connors Augen stand zu lesen, dass er es ausnahmsweise ernst meinte. Paddy schien sich als Lustbremse ersten Grades zu erweisen! Sosehr es ihr missfiel, war sie fest entschlossen, O’Connor bei der Bewältigung des Themas nach Kräften zu unterstützen. Schlicht und einfach, um das hohlwangige irische Gespenst aus seiner Vergangenheit zu exorzieren, bevor es weiter in ihrer Romanze herumspuken konnte.

»Wir haben uns unterhalten. Nein, falscher Begriff. Ich habe ein paar rhetorische Zierschritte gemacht und anschließend einem Monolog von Macbeth’scher Düsternis beigewohnt. Im ersten Moment war alles einfach nur seltsam. Als ich dann rauf zum Hotel ging, wurde es unheimlich. Vielleicht wirft meine Phantasie Blasen, aber mir ist Verschiedenes durch den Kopf gegangen. Können wir darüber reden?«

»Natürlich«, sagte sie brav. »Wo hast du ihn gelassen?«

»Paddy?«

»Ja.«

»In der Nacht verschwunden.« O’Connor betrachtete das leere Glas in seiner Hand, drehte es hin und her und stellte es wieder vor Kuhn hin. »Vielleicht hätte ich ihn aufhalten sollen, aber ich denke, es war besser, ihn vorerst gehen zu lassen. Die Bar ist ein sicherer Ort.«