Derzeit gab es in Kölns erster Adresse keine privaten Gäste mehr. Dafür Legionen von Mitarbeitern der amerikanischen Regierung, Vertreter der CIA, Bilderbuchausgaben von Geheimdienstleuten mit den obligatorischen schwarz getönten Ray-Ban-Sonnenbrillen, Agenten des FBI sowie Dutzende hochkarätiger Vertreter von CNN. Insgesamt zweihundertfünfzig der dreihundertfünf Zimmer waren Clintons Kohorten, die restlichen fünfzig dem Hauptaufgebot der Presse vorbehalten. Noch zwei Tage, dann würde eine mit Journalisten voll besetzte Tristar im Gefolge des Präsidenten eintreffen und das Hyatt endgültig in ein zweites White House verwandeln. Es fehlte letztlich nur das Sternenbanner auf dem Dach.
Der eigentliche Grund, warum Wagner im bestgeschützten Gebäude Kölns auf Franz Maria Kuhn wartete und nicht wusste, ob sie darüber lachen oder weinen sollte, hieß allerdings nicht Bill Clinton, sondern Liam O’Connor.
Prof. Dr. Liam O’Connor, um genau zu sein.
Sie legte die Zeitschrift auf den Glastisch neben sich und schlug die Beine übereinander.
Kuhn tauchte auf. Er kam, mit der Rechten an seinem Krawattenknoten nestelnd, in der Linken ein angebissenes Sandwich, die Freitreppe vom Buffet herunter, sah sie und hielt mit ausladenden Schritten auf sie zu. Er war schmächtig und wie immer schlecht gekleidet.
»Wir müssen dann mal«, sagte er etwas zu laut. Es klang, als habe er auf sie gewartet, nicht umgekehrt. Wagner hasste Menschen, die ihre Lautstärke an öffentlichen Plätzen nicht unter Kontrolle hatten. Sie griff nach ihrer Handtasche und stand auf.
»Hübsche Beine«, bemerkte Kuhn kauend.
Wagner sah an sich herunter. Der Rock ihres dunkelgrauen Kostüms war ein Stück hochgerutscht. Der Stoff wanderte auf ihren
Strümpfen nach oben. Reibungswiderstände, gegen die sich nichts machen ließ, als von Zeit zu Zeit am Saum zu zerren.
Blödmann, dachte sie.
Nicht, dass es ihr etwas ausmachte, Komplimente über ihre Beine zu hören, aber nicht von Kuhn. Er war brillant auf seinem Gebiet, menschlich hingegen eine ziemliche Katastrophe. Je mehr er versuchte, nett zu sein, desto schlimmer war das Resultat.
Sie zückten ihre Sicherheitsausweise und näherten sich dem Ausgang. Wagner lächelte die beiden hochgewachsenen Männer an, die gleich daneben Posten bezogen hatten. Der Sitz ihrer dunkelblauen Anzüge war perfekt, die dezent gemusterten Krawatten makellos gebunden. Vom obligatorischen Knopf im Ohr wand sich ein dünnes Kabel in den Hemdkragen, das Mikrofon verbarg sich manschettenknopfgroß im Ärmel. Ein winziger Sticker, der einen goldenen Marshallstern auf rotem Grund zeigte, wies sie als Agenten des Secret Service aus – »bullet catchers«, wie sie sich selbst voller Stolz nannten, Kugelfänger. »Heute ist der Tag, an dem der Präsident angegriffen werden soll«, lautete jeden Morgen ihre Beschwörungsformel. »Und ich bin der Einzige, der das verhindern kann.« Im Augenblick gaben sie sich gelassen. Ihr Präsident würde erst noch eintreffen. Dann aber war es besser, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Jeder, der unkontrolliert in den fünf Meter weiten Bannkreis um Bill Clinton trat, riskierte einen verdrehten Arm oder Schlimmeres. Dieser Bereich galt als Todeszone, in dem potentielle Attacken auf das Staatsoberhaupt als lebensbedrohlich eingestuft wurden. Die bullet catchers kannten keine Gnade.
Sie lächelten zurück, auf gleicher Blickhöhe mit ihr.
In solchen Momenten genoss sie ihre Körpergröße. Wagner maß einen Meter siebenundachtzig – ohne die High-Heels, die sie in dutzendfacher Ausfertigung besaß, weil sie fand, auf die paar Zentimeter komme es nun auch nicht mehr an. Sie wusste, dass ihre Beine in der Tat von bemerkenswerter Länge, die komplette Kika Wagner dafür aber auch bemerkenswert dünn, blass und eckig war. Mit ihrer schmalen, endlosen Nase voller Sommersprossen hätte sie einem Bild von Modigliani entstammen können. Leider fehlte ihren übrigen Formen die entsprechende Üppigkeit, als habe der Italiener nach Fertigung des Porträts die Lust verloren und den Pinsel an Egon Schiele weitergegeben.
Nachdem sie als Teenager durch die kleinen Höllen gewandelt war, die das Schicksal klapperdürren Riesenkindern bereitet, hatte sie irgendwann die Flucht nach vorn beschlossen. Ihr honigfarbenes Haar war knapp über der Taille gerade abgeschnitten, die Röcke grundsätzlich kurz, die Schuhe hoch, über ihre Blusen zogen sich bevorzugt schmale Krawatten. Insgesamt sah Wagner auf diese Weise noch länger aus, als sie tatsächlich war, eine Frau, nach der man, wie Spencer Tracy einmal über die junge Katherine Hepburn gesagt hatte, einen Hut werfen konnte in der Gewissheit, dass er irgendwo hängen bleiben würde.
Die beiden Amerikaner warfen einen Blick auf die Ausweise und Kuhns Butterbrot.
»Kein Dynamit, Jungs«, sagte Kuhn jovial. »Schwarzwälder Schinken! You know?«
Das Lächeln verschwand aus den Gesichtern der beiden Männer. Einer deutete auf die Schleuse im Ausgang, wo Polizisten beiderlei Geschlechts zur routinemäßigen Leibesvisitation bereitstanden. Wagner nickte stumm, während Kuhn demonstrativ das Gesicht verzog.
»Kika!« Als ob sie an allem schuld sei. »Wir gehen doch raus, nicht rein! Haben Sie eine Ahnung, was die schon wieder von uns wollen?«
»Fragen Sie sie.«
»Verstehe! Ich versteh ja alles. Rein, okay! Aber raus? Kommen
Sie, das ist Geldverschwendung. Das sind Ihre Steuergelder, Kika, haben Sie darüber schon mal nachgedacht? Sie und ich, wir bezahlen den ganzen Quatsch, und was haben wir davon? Staatsverschuldung!«
Wagner verdrehte die Augen. Sie gingen durch die Schleuse, wurden abgetastet, und Kuhn musste sein Brot der Durchleuchtung anvertrauen.
»Ich will raus, nicht rein«, maulte er weiter.
»Wir wissen’s inzwischen«, sagte Wagner. »Wir wissen jetzt auch, warum wir eine Staatsverschuldung haben. Wer hätte gedacht, dass die Zusammenhänge so einfach sind!«
Sie schob ihn nach draußen und beschleunigte ihren Schritt. Vor dem Hotel wartete ein Shuttle darauf, sie zu einem der öffentlichen Parkplätze in der Nähe zu bringen. Kuhn stellte fest, dass seine Jacke auf halb acht hing und ein Schnürsenkel aufgegangen war, versuchte, beide Probleme gleichzeitig unter Einbeziehung seines Butterbrots zu lösen und hampelte hinterdrein.
»Die Zusammenhänge sind aber so einfach!«, rief er. »Bleiben Sie doch mal stehen, verdammt, ich… die Staatsverschuldung ist das Resultat des Zusammenspiels kleinster Faktoren. Am Anfang setzen sich alle an einen Tisch und sagen, jetzt wird regiert, was könnten wir denn mal machen… Mist! Halten Sie bitte das Brot. Wollen Sie hören, was Silberman mir eben erzählt hat? Wussten Sie, dass Franklin Roosevelt keine Ahnung hatte, was er tun würde, als er zum ersten Mal das Oval Office betrat?«
»Nein. Warum essen Sie das Brot nicht auf?«
»Weil…« Kuhn ging in die Hocke, schaffte es irgendwie, seinen Schnürsenkel neu zu verknoten, und kam wieder hoch. »Also, er bat um einen Bleistift und einen großen Block mit weißen Seiten. Verstehen Sie? Er hatte nicht den leisesten Schimmer, was er tun sollte! Erste Amtshandlung, Block holen für den Präsidenten, weil er keinen
Plan hat, das lässt sich schon mal in barer Münze ausrechnen. Aber heute…«
»Wie lange wollen Sie eigentlich noch herumtrödeln?« Wagner wandte ihm den Rücken zu und setzte den Fuß auf die unterste Stufe der Busstiege.
»…sind Präsidentenübergänge die reinsten Großunternehmen geworden«, fuhr Kuhn unbeirrt fort, während er hinter ihr hersprang. Wagner nahm Platz. Kuhn stopfte sich den Rest des Brotes in den Mund und nuschelte: »Jedes Mal, wenn sie einen neuen Präsidenten an die Spitze wählen, entsteht sozusagen über Nacht ein dreitausendköpfiges Ungeheuer, dreitausend Amateure, die sich Regierungsapparat nennen. Den meisten ist schleierhaft, welche Politik sie machen wollen. Wussten Sie, dass ein Präsidentenübergang Wochen und Monate dauern kann? Einfach um alles zu koordinieren, jedes Ministerium, jeden kleinen Wicht, der irgendwo mit dabei ist. Ich war in Washington, da bekommt man einiges mit. Ich könnte Bücher darüber schreiben! Jeden lieben langen Tag beenden sie mit einer Sitzung, in deren Verlauf ein hochrangiges Gremium die allgemeine Koordinierung zu koordinieren versucht. Ein bürokratischer Alptraum!«