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Warum hatte er nicht kündigen können am Tag der Fertigstellung? Aber Jana hatte es nicht gewollt. Sie hatte es für klüger gehalten, dass er bis auf weiteres in den Diensten des Flughafens verblieb. Sie wollte nicht, dass sich dort vor dem Gipfel etwas in der Personalstruktur veränderte, das vielleicht Misstrauen auf den Plan rief. Zwar waren sie durch ein sechstes Mitglied der Gruppe abgesichert, aber die Minimierung aller Risiken stand im Vordergrund. Im Moment, da »LAUTLOS« abgeschlossen war, stand es ihm frei, aus dem Flughafen zu verschwinden. Und keine Sekunde vorher.

Clohessy erreichte die Hausnummer achtunddreißig, schloss auf, trat in den dunklen Hausflur und wartete, bis die schwere Bohlentür des Altbaus hinter ihm ins Schloss gefallen war. Dann hastete er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in den zweiten Stock, stürzte in seine Wohnung und ließ sich gegen die Flurwand fallen. Der Spiegel auf der anderen Seite zeigte ihm ein Gesicht, das er nicht als seines erkennen mochte. Er sah aus, als sei er schon tot! Nur die brennenden Augen tief in ihren Höhlen zeugten davon, dass Paddy Clohessy verzweifelt über sein Leben nachdachte.

Genauer gesagt darüber, wie er vermeiden konnte, es zu verlieren.

Er sah erneut auf die Uhr. Es war 23.35 Uhr. Vor einer knappen halben Stunde hatten er und O’Connor sich am Rheinufer getrennt.

Glasklar erkannte er, dass Jana seinen Tod erwog. Die Frage war, ob er sie hatte glauben machen können, dass O’Connor ihm vertraute und bis morgen nicht auf dumme Gedanken kam. Er selbst glaubte es nicht. O’Connor war mit einem Übermaß an Phantasie ausgestattet. Er war zu klug, um sich hinters Licht führen zu lassen, und Clohessy hatte mehr erzählt als beabsichtigt. Statt den Physiker wie geplant einzulullen und sein Mitleid zu erregen für den armen untergetauchten Paddy, der nichts anderes wollte als seine Ruhe, hatte er sich zu einem grellen Outing hinreißen lassen. Er hatte O’Connor Einblick in sein Innerstes gewährt, um ihm klar zu machen, warum sie nichts mehr miteinander zu schaffen hatten. Und mehr noch, um sich selbst klar zu machen, was mit ihm geschehen war vor fünfzehn Jahren, als er die Frau verließ, die er liebte, um sich nicht eines Tages blutbesudelt neben ihrer Leiche wiederzufinden, das Messer in der Rechten und seinem entfliehenden Verstand hinterherstarrend.

Sie wollten ihn töten. Wollten sie das wirklich?

Er zwang sich zur Ruhe und überlegte. Wenn er blieb, musste er hoffen, dass Jana kein Risiko mehr in ihm sah. Der Lohn wäre die Million. Irrte er sich, würde er die Million nicht mehr brauchen.

Er konnte fliehen. Ohne die Million. Dafür mit seinem Leben.

Clohessy schätzte, dass ihm ein, zwei Stunden blieben. Falls Jana wirklich plante, ihn verschwinden zu lassen, mussten sie ihn vor seinem Dienstantritt liquidieren. Womöglich gaben sie ihm Zeit, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Vielleicht wollten sie ihn im Schlaf ermorden.

Himmel, was für Gedanken.

Geld oder Leben!

Nie hätte er gedacht, dass die alte Bankräuberfloskel eine solche Bedeutung für ihn bekommen würde. Ohne die Million war er wertlos, ein Nichts auf der Flucht, ein Niemand. Alles wäre umsonst gewesen.

Eine Million!

Sollte er wirklich eine Million in den Wind schießen?

Schweißnass stieß er sich von der Dielenwand ab und begab sich ins Bad. Er drehte den Hahn auf und schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht, mehrmals, bis die fiebrige Hitze aus ihm wich. Als er sich eben besser zu fühlen begann, klingelte sein Telefon.

Jedes Klingeln traf ihn wie ein Stromstoß. Er verharrte über das Becken gebeugt, die Hände zur Schale geformt, durch deren Ritzen Wassertropfen nach unten fielen. Erneut schien seine Kehle sich zuzuschnüren und sein Herz zu stolpern.

Er wartete, und es klingelte weiter. Nach dem sechsten Klingeln schaltete sich sein Anrufbeantworter ein und sagte sein Sprüchlein auf.

Eine Sekunde lang rauschte es in der Leitung. Dann legte jemand auf.

Gingen sie davon aus, dass er noch nicht zu Hause war? Würden sie warten oder kommen, weil sie dachten, sie könnten vor ihm in der Wohnung sein und ihn dort empfangen?

Die Entscheidung war gefallen. Sollten sie ihre verdammte Million behalten! Sie würden sie ohnehin behalten wollen.

Am liebsten wäre er durch das geschlossene Fenster nach draußen gesprungen und davongelaufen.

Nichts überstürzen, dachte er. Sieh zu, dass du so schnell wie möglich hier rauskommst, aber mach es richtig. Du bist nicht völlig mittellos. Etwa zwanzigtausend Mark besitzt du in bar. Alle Mitglieder der Gruppe verfügten über eine größere Summe, die sie im Notfall einsetzen konnten. Er brauchte Kleidung, er musste einen Koffer packen, und er musste genau überlegen, was er mitnahm. Seine gefälschten Papiere, alles, was seine Person ausmachte und was vonnöten war, um über die Grenze zu kommen.

Er löschte die Lichter, zog seinen einzigen Koffer vom Schrank im Schlafzimmer und machte sich im Dunkeln an die Arbeit.

WAGNER

Die Wärme, von der sie sich durchdrungen fühlte, entsprang nur zur Hälfte dem Umstand, dass Wagner sich in diesem Augenblick als ausgesprochen weise und konstruktiv empfand. Ihr Vorschlag war von salomonischer Qualität gewesen. Zugleich schien sich ihr ganzes Dasein in eine Art Zwischengeschoss oberhalb der Wirklichkeit verirrt zu haben. Seit sechsunddreißig Stunden schlief sie kaum, trank so viel wie nie zuvor in ihrem Leben und schien ausgerechnet ihre klarsten Gedanken zu träumen. Selbst jenseits der Toleranzgrenze allgemeiner Verkehrskontrollen, bretterte sie mit einem Volltrunkenen in besinnlicher Stimmung durch Köln, um die Realität daraufhin abzuklopfen, ob sie sich in einen kinoreifen Thriller verwandelt hatte.

Wie erwartet stand Ryan O’Dea im Telefonbuch. O’Connor hatte seine Nummer gewählt, aber der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Möglicherweise war er von dem Treffen am Rheinufer noch nicht nach Hause gekommen. O’Connor hatte es vorgezogen, keine Nachricht zu hinterlassen. Also waren sie losgefahren. An jeder zweiten Ampel war ihr nach Umkehren, so absurd erschien ihr zwischendurch die ganze Geschichte. Dann wiederum folgte sie ihrem Verlauf, als gäbe es nichts Naheliegenderes als das Ungeheuerliche. Je näher sie der Rolandstraße kamen, einer mit Altbauten und Bäumen bestückten Allee zur Südstadt hin, desto astraler wurde ihr Empfinden, und sie trat aus sich heraus, kopfschüttelnd ihr Tun verfolgend, während ihr Fuß aufs Gas drückte und O’Connor ihren Nacken kraulte.

In ihren Ohren dröhnte ihr Herz.

Kuhn hatte wenig Begeisterung für den Plan gezeigt, Paddy aufzusuchen. Allem Anschein nach war ihm nicht wohl bei der Sache. Nach einigen Überredungsversuchen und der in Aussicht gestellten Chance, Bruce Willis oder Harrison Ford zu begegnen, die in diesem Film vermutlich mitspielten, hatten sie es aufgegeben. Der Lektor saß an der Bar wie festgeschraubt. Vielleicht dachte er auch nur, sie würden seine Anwesenheit als störend empfinden. Allerdings glaubte Wagner zu wissen, was ihn beunruhigte. In die Rolandstraße zu fahren, war real. Die Gesetze der Fiktion galten nur in Büchern, und jenseits gedruckter Worte war Kuhn alles, nur kein Held.

Umso besser. Letzten Endes.

Die Rolandstraße lag in unmittelbarer Nähe des Volksgartens, einer ausgedehnten Parkanlage mit altem Baumbestand, Biergarten und Entenweiher. Wenn sich die Stadt im Sommer aufheizte, waren die Wiesen bis in die späte Nacht bevölkert. Es roch nach Gegrilltem, und das Schlagen von Bongos und Congas gab den Pulsschlag an. Im Moment hielten sich die nächtlichen Aktivitäten in Grenzen. Als der Golf an der dunklen Silhouette vorbeiglitt, schien der Park menschenverlassen dazuliegen.

Auch in der Rolandstraße war kaum jemand unterwegs. Die wenigen Laternen verstärkten den Eindruck von Verlassenheit. Heruntergekommene Altbauten wechselten sich ab mit aufwendig sanierten Fassaden.