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Aber wie schloss man jedes Risiko aus?

Kuhn wählte O’Connors Nummer. Das Handy des Physikers war ausgeschaltet. Typisch, dachte Kuhn. Wahrscheinlich führte er es nicht einmal mit sich. O’Connor telefonierte ungern. Er hasste es, für jedermann erreichbar zu sein, und benutzte das Mobilephone nur, um seinerseits andere zu erreichen, wenn ihm danach war.

Sollten sie doch machen, was sie wollten.

Grummelnd griff sich Kuhn eine Zeitung, die jemand liegen lassen hatte, und beschäftigte sich mit dem Kölner Lokalleben.

Auch hier nichts als Gipfel.

Wie es aussah, war den Kölnern die Lust am großen Ereignis mittlerweile vergangen. Die Stadt schien im Belagerungszustand. Vergessen, dass Burger den Gipfel ursprünglich in der Messe mit seinem dortigen Pressezentrum hatte unterbringen wollen. Kohl war anderer Meinung gewesen, und die Meinung des Kanzlers hatte zu dieser Zeit immerhin zwei Zentner Gewicht. Volksnah sollte der Gipfel sein.

Nicht abgeschottet wie in Birmingham.

Anfangs hatten die Kölner das Gipfelstakkato mit Genugtuung und volksfestähnlicher Ausgelassenheit goutiert, bis sie dahinterkamen, dass sie nun in ihrer eigenen Stadt nichts mehr zu sagen hatten. Am dritten und vierten Juni hatten die Regierungschefs der EULänder Köln in Beschlag genommen, fünf Tage später folgten die Außenminister der G-8-Staaten. Fast am Rande trafen sich die katholischen Bischöfe reicher Industrienationen mit ihren armen Brüdern aus den Schuldnerländern, um eine Kölner Erklärung zur Schuldenfrage zu verfassen. Köln war in den Mittelpunkt der Welt gerückt. Ähnliche Aufgebote an Polizei hatte man nicht einmal in den Jahren der RAF-Hysterie erlebt. Grün herrschte vor, einer denkwürdigen Statistik zufolge aufgelockert von 165 000 Fleißigen Lieschen, 90 000 Geranien und 55 000 Fuchsien, die nichts an der Tatsache änderten, dass Köln unter Waffen stand.

Während im Kosovo die humanitäre Katastrophe ihren Fortgang nahm, hatte die Stadt begonnen, sich herauszuputzen. Kosovarische Gehöfte und serbische Brücken gingen in Trümmer, die Stadtväter beschlossen, den erst halbfertigen Neubau des Wallraf-Richartz- Museums hinter bunter Folie zu verstecken. Fünfundfünfzig Menschen starben in einem Personenzug, als die Nato eine Eisenbahnbrücke im Südosten Serbiens bombardierte, die Straße zwischen Gürzenich und Rathaus erhielt zwecks Verschönerung eine neue Decke, und längst fällige Schlaglöcher wurden geflickt. In Korisha kostete der Bombenhagel knapp einhundert Kosovo-Albanern das Leben, Hunderte Kilometer entfernt wurden die Kölner Straßen per Sandstrahl von einer Viertelmillion festgetretener Kaugummis befreit. Das eine schien mit dem anderen nichts zu tun zu haben, und de facto hätten die beiden Welten, in denen sich die Ereignisse abspielten, nicht weiter auseinander liegen können. In Wirklichkeit bedingten sie einander und schufen eine Atmosphäre der Verunsicherung. Alles hätte so schön sein können. Der Gipfel, das ganze Drumherum. Stattdessen pfiff man im Keller, weil ein Irrer meinte, sich mit der mächtigsten Militärallianz der Welt herumprügeln zu müssen.

Am Tag dann, als Milosevic und das jugoslawische Parlament dem Friedensplan der G-8 zustimmten, schien Europa wie von einem Krampf erlöst. Die Aussicht auf ein Ende des Krieges überstrahlte alles. Köln erhob sich zur Friedensstadt. Zwischen Karnevalsstimmung und Ausnahmezustand blieb kein Platz für Normalität. Straßen, Plätze und Brücken waren ein buntes Fahnenmeer. Heerscharen von Journalisten hetzten von Schauplatz zu Schauplatz, versehen mit städtischen Essensgutscheinen für Gipfelmenüs zum Zwecke wohlwollender Berichterstattung. Tausende von Delegationsmitgliedern erfreuten sich an einem kulturellen Rahmenprogramm mit einer Vielzahl von Ausstellungen, Konzerten, Lesungen und Filmreihen. Fassaden waren geschrubbt, Baustellen verhängt, Graffiti von den Wänden geschliffen, Brunnen gesäubert, Bänke gestrichen, Laternen repariert und Straßenbahnhaltestellen mit neuen Lampen bestückt worden. Kohls volksnaher Gipfel war Realität geworden. Oder, wie der Kabarettist Jürgen Becker bemerkte: Blitzsauber, die Stadt. Sogar die Hundescheiße ist verschwunden. Sechzehn Jahre Kohl waren nicht umsonst.

Inmitten des Potemkin’schen Charmes ließen nur das Geknatter der Helikopter und Kolonnen von Mannschaftswagen ahnen, was es wirklich hieß, Gipfelstadt zu sein.

Dann kam die Ermüdung.

Vielen ging die omnipräsente Polizei inzwischen auf die Nerven. War nicht alles vorbei? Serbien im Aus, Russland im Boot, Gerhard Schröder und Joschka Fischer in Bronze gegossen? Stattdessen schienen immer neue Absperrungen gleichsam aus dem Boden zu wachsen. Massive Kritik wurde laut. Den Gastronomen in der Altstadt hatte man das Geschäft ihres Lebens in Aussicht gestellt. Die Sperrstunde war aufgehoben worden, auf beispiellose Weise reichte die Bürokratie dem Nachtleben die Hand, aber dann fanden die avisierten Gäste vor lauter Gittern und Flatterbändern nicht mehr an die Tresen. Zu allem Überfluss nötigte der Secret Service das BKA, sämtliche Schirme und Blumenkübel, Stühle und Tische aus der Altstadt verschwinden zu lassen. Nach dem Wegfall der Außengastronomie rechneten erboste Wirte in halb leeren Kneipen nach, was es sie kostete, leichtgläubig Zusatzkräfte eingestellt und die Vorräte aufgestockt zu haben. Die einen erwogen Klage gegen die Stadt, andere schickten ihre defizitären Bilanzen kurzerhand an das Auswärtige Amt zur Begleichung. Ähnlich verärgert zeigte sich der Einzelhandel, dessen Erwartungen ebenfalls hinter den Gitterbarrieren zurückblieben. Zwecklos, den Betroffenen zu erklären, man sei selbst von den plötzlichen Forderungen der Amerikaner überrascht gewesen. Spätestens nach dem Außenminister-Gipfel war jede Euphorie verflogen. Während Burgers große Stunde über prominenten Eintragungen ins Goldene Buch nicht enden wollte, zogen die Bürger immer längere Gesichter – vor lauter Security waren beim EU-Empfang vor dem Rathaus eben mal zweihundert Plätze geblieben, um einen Blick auf die weltpolitische Elite zu werfen, und auf die hatte sich die Presse gestürzt.

Volksnah war vor allem die Polizei. Die Beamten gaben sich jede Mühe, den Unmut der Kölner abzufedern, aber nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass die Sicherheitshysterie einem neuen Gipfel zustrebte.

Die Leute schüttelten den Kopf. Was war denn nun mit dem Frieden von Köln? Alles war doch in bester Ordnung. Was sollte jetzt noch passieren?

Kuhn rutschte missmutig auf seinem Hocker hin und her und dachte daran, dass Gorbatschow in Deutschland vor Jahren nur knapp einem Attentat entgangen war. Auch damals hatte alles im Zeichen der Versöhnlichkeit gestanden. Die entspannte Atmosphäre trog. Ab morgen würde Köln noch mehr ins Fadenkreuz des Terrorismus geraten. Jenseits des jovialen Winkens und zufriedenen Wir- haben-es-nochmal-geschafft-Lächelns würde ein von jeglicher Euphorie unbeeindruckter Sicherheitsapparat seine Wachsamkeit erhöhen. Kuhn wusste aus Washington, wie groß die Angst der Amerikaner vor einem Anschlag auf das Leben ihres Präsidenten war und was sie alles in Bewegung setzten, um jeder Eventualität zuvorzukommen. Der Secret Service kannte kein Vertrauen. Der bevorstehende Supergipfel mochte vielen wie eine große, fröhliche Party vorkommen – er war vor allem der Gipfel der Security. Von Clinton hieß es, er werde mit eintausend Spezialagenten anreisen. Seit Wochen war Köln infiltriert von bewaffneten US-Sicherheitsleuten, vom BKA mit einer Waffentrage-Erlaubnis und Sonderausweisen ausgestattet. Der Apparat um Jelzin stand dem in wenig nach. Schröder, sosehr er sich zum Anfassen präsentierte, war unantastbar. Alle Regierungschefs genossen einen Schutz, der die Gefährdung ihrer Leben faktisch ausschloss. Keine Maus konnte durch diesen Ring aus Sicherheit schlüpfen.

Aber wie schloss man die Anwesenheit eines verdeckten Agenten am Köln-Bonner Flughafen aus?

Und was hatte seine Anwesenheit zu bedeuten?