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Je länger Kuhn auf dem Knorpel der Frage herumkaute, desto mehr verstärkte sich sein grollendes Unbehagen. Sicher, bislang war alles glatt gegangen. Das Schlimmste war durchgestanden, nachdem sich Schröder und Ahtisaari auf dem EU-Gipfel in die Arme gefallen waren. Vor einer Woche hatte das Abkommen von Kumanovo den Krieg offiziell beendet. Im Grunde gab es weniger Anlass zu Befürchtungen als je zuvor. Der Belgrader Betonkopf lag am Boden, oder zumindest tat er so. Alle hatten sich wieder lieb. Jelzin telefonierte mit dem Bundeskanzler und bekräftigte seinen Willen zum Frieden. Der chinesische Ministerpräsident Zhu Rongji betonte Pekings konstruktive Rolle, was immer er damit meinte.

Blieb, die Sieger zu empfangen. Lorbeer den Cäsaren!

Dubios.

Wenn wirklich die Gefahr eines Attentats bestand, warum hatte es nicht vor zwei Wochen stattgefunden, als einhunderttausend Demonstranten in Köln gegen die Wirtschaftspolitik der reichen Nationen auf die Straße gegangen waren, durchmischt von Kriegsgegnern, Autonomen und militanten Krawallmachern, als Russland mit gebrochenem Rückgrat auf den Balkan sah und die Nato stirnrunzelnd ankündigte, der Friedensbotschaft Ahtisaaris so lange Bomben folgen zu lassen, bis eine Einigung über den Abzug der serbischen Truppen vorliege, mit getrockneter Tinte? Warum jetzt?

Weil die wichtigsten Skalps, die man sich holen konnte, damals noch gefehlt hatten?

Dieser Clohessy mit seinem falschen Namen wäre keine Sorge wert gewesen, hätte der Secret Service nicht einen Begriff geprägt, der sich in Kuhns Phantasie an diesem Abend zur Monstrosität auswuchs: das retardierende Moment. Das Nicht-erfolgen der Katastrophe zum Zeitpunkt, da alle ihr Eintreten vermuten. Das Verstreichenlassen des kritischen Augenblicks.

Dann der vernichtende Schlag, wenn niemand mehr damit rechnet!

Welchen Effekt würde ein Anschlag haben, wenn er jetzt erfolgte, auf dem Supergipfel? Im Angesicht der strahlenden Pose? Mit einem Boris Jelzin als Verbündetem und einem Großchina, das, starren Gesichts zwar, aber einlenkend, auf sein Veto verzichtet hatte?

Was, zum Teufel, wollte Paddy Clohessy? Falls er überhaupt etwas zu wollen hatte und nicht nur Handlanger war, wie Liam O’Connor abenteuerlustig vermerkt hatte.

Wer waren die Leute hinter ihm?

Kuhn seufzte. Nein, es war ganz und gar nicht gut, einen solchen Menschen mitten in der Nacht aufzusuchen. Ein Unfug! Eine verdammte Schnapsidee. Er hätte diesen Unsinn vehement verhindern sollen. Warum gingen sie nicht zur Polizei, statt Detektiv zu spielen?

Dann dachte er, vielleicht sind sie ja zur Polizei gegangen. Das Beste wäre es. Aber warum konnte er dann Wagner nicht erreichen? Sie hatte ihr Handy nicht mal ausgeschaltet, es klingelte durch. Natürlich gab es noch die Möglichkeit, dass sie tatsächlich bei diesem Kerl waren und mit ihm redeten. Aber auch das war kein Grund, nicht ranzugehen.

Oder sie konnte nicht mehr rangehen.

Einen Moment lang war er kurz davor, die Polizei zu verständigen. Aber O’Connor hatte sich dagegen ausgesprochen, die Polizei ins Spiel zu bringen, solange Paddys Unehrenhaftigkeit nicht eindeutig erwiesen war. Und O’Connor konnte furchtbar sauer werden, wenn man ihm nicht seinen Willen ließ. Er konnte die Zusammenarbeit mit dem Verlag überdenken. Er war eine Zicke ersten Grades. Jetzt einen Fehler zu begehen, nur weil er vielleicht Gespenster sah, missbehagte Kuhn noch mehr als die Möglichkeit, dass Paddy Clohessy ein Schurke war.

Er leerte sein Glas und beglich die Rechnung.

Es half alles nichts. Er würde rausfahren müssen in die Rolandstraße und nachsehen, was los war. Und sei es nur, um seine Nerven zu beruhigen. Vermutlich war nicht das Geringste los. Wie immer in solchen Fällen. Aber nachsehen konnte nicht schaden.

Warum bloß hatte man mit O’Connor immer nur Probleme?

Nichts wird los sein, dachte Kuhn, während er in die Tiefgarage des Maritim fuhr. Gar nichts.

Er suchte in der Jackentasche nach seinem Autoschlüssel. Zweimal entglitt er seinen Fingern, dann schaffte er es, ihn ins Schloss seiner alten Ente zu stecken und einzusteigen.

Der Cognac half ihm, seine Furcht für Tatendrang zu halten.

MIRKO

Mirko war im Dunkel der gegenüberliegenden Straßenseite nicht auszumachen. Er stand unter den Bäumen und sah den irischen Physiker und die hochgewachsene Frau aus dem Wagen steigen und in Richtung Park verschwinden.

Gelassen zog er das FROG aus der Lederjacke und rief Jana an.

»Die Vögelchen haben sich eine Viertelstunde in ihrem Wagen rumgedrückt«, sagte er. »Gerade sind sie ausgestiegen.«

»Das war nicht anders zu erwarten«, sagte Jana. »Was tun sie?«

»Keine Ahnung. Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als wollten sie möglichst schnell Alarm schlagen. Sie sind Arm in Arm Richtung Volksgarten gegangen. Kamen mir eher vor wie ein Liebespaar.«

»Trotzdem. Solange sie in der Gegend sind, wissen wir nicht, was sie vorhaben. Wann sie zurückkommen und mit wem.« Sie machte eine Pause. »Ich würde sagen, damit ist die Entscheidung gefallen.«

»Ja. Lösen wir das Problem.«

»Wie besprochen«, bestätigte Jana.

Er schaltete ab. Clohessy konnte nicht wissen, dass sie ihn während seiner Unterhaltung mit O’Connor abgehört hatten.

Er fragte sich, was in den Techniker gefahren war, dass er O’Connor diese von Vergangenheitsbewältigung triefende Nabelschau geliefert hatte. Es musste das irische Sentiment sein. Clohessy hatte nichts weiter tun sollen, als ein bisschen Zuckerguss über die gemeinsame Vergangenheit gießen und den Physiker bitten, ihn nicht zu verraten. Die Geschichte vom guten Kerl, der Probleme bekommen hatte und nun unter falschem Namen im Ausland lebte und arbeitete – was war daran so schwer zu erzählen? Ein bisschen weniger Pathos, hier und da freundschaftliches Schulterklopfen, eine Verabredung zum Bier nach dem Gipfel mit der Versicherung, es sei alles in bester Ordnung, und O’Connor hätte keinen weiteren Gedanken an die Sache verschwendet.

Aber Paddy Clohessy war eben ein hoffnungsloser Jammerlappen und – schlimmer noch – ein Idealist. Alle Idealisten neigten zur Geschwätzigkeit. Der alte Mann in den Bergen, er mochte begnadet sein in seiner Perfidie, bigott und skrupellos, aber auch er redete wie ein Waschweib, wenn es auf Fragen der Ideale kam. Einzig Jana war anders. Für sie hegte Mirko stille Bewunderung, weil sie ihre wahren Beweggründe für sich behielt. Er ahnte, was sie im Innersten antrieb, der Wunsch, etwas für ihr Volk tun zu können, der Schmerz über die Wunden, welche die Vergangenheit ihr geschlagen hatte, ihre seelische Zerrissenheit, weil sie sehr wohl wusste, dass sie zu dem geworden war, was sie nie hatte sein wollen.

Die Spirale der Gewalt führte immer abwärts.

Ohne Hast ging Mirko über die Straße. Er gönnte sich ein Lächeln. Clohessy hatte ihn nicht gesehen. Nicht einmal während seiner Unterhaltung mit O’Connor am Rheinufer, obschon Mirko nur Meter entfernt dagestanden und auf das schwarze Wasser hinausgeblickt hatte, den Worten lauschend, die aus seinem Ohrstecker drangen.

Mit einigem Vergnügen zog er ein schimmerndes Bündel aus seiner Jacke und machte sich daran, das Schloss der Haustür zu öffnen. Es war ein beinahe nostalgischer Spaß, und er sah sich gezeichnet von der Hand eines Cartoonisten – mit schwarzer Augenmaske und Stoppeln im Gaunergesicht, schlappohrig und hundsnasig, so wie die Beagle Boys in den legendären Uncle-Scrooge-Comics von Carl Barks dargestellt waren. Immer wieder schön, das High-Tech-Instrumentarium für eine Weile gegen die guten alten Dietriche, Brecheisen und Totschläger einzutauschen. Mirko summte etwas vor sich hin, während seine Finger ein Eigenleben entwickelten und wie Spinnen über das Schloss krabbelten. Er brauchte keine zehn Sekunden, und der Mechanismus schnappte auf. Niemand würde später erkennen, dass er sich auf diese Weise Einlass verschafft hatte. Seine Art, Schlösser zu öffnen, hinterließ nicht den kleinsten Kratzer. Und zumeist auch keine Überlebenden.