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Er trat in den dunklen Hausflur und verharrte, den Rahmen der offenen Tür umklammert. Wie oft würde er diese Tür öffnen müssen? Besser, sie vorübergehend zu blockieren. Er ließ den Holm herausschnappen, so dass sie nicht ins Schloss fallen konnte, lehnte sie geräuschlos an und erstieg die ausgetretenen Stufen der Altbautreppen zum zweiten Stock. Unhörbar rollten seine Turnschuhe auf den Planken ab, als er sich Clohessys Wohnungstür näherte. Er ging sehr nahe an den Fußleisten entlang. Hier war die Gefahr, dass die Bohlen knarrten, am geringsten. Die Wohnung lag etwa sechs Meter seitlich des geräumigen Treppenhausschachts am Ende eines kurzen, hohen Ganges. Mirko lehnte sich in unmittelbarer Nähe der Tür gegen die Wand, verhakte die Daumen in den Taschen der Jeans und wartete.

Er hatte sich nicht geirrt.

Zehn Minuten nachdem er seinen Posten bezogen hatte, wurden im Innern der Wohnung Geräusche laut. Jemand näherte sich. Dann schwang eine der beiden Flügeltüren auf, und Clohessy erschien in der Öffnung, einen mittelgroßen Koffer in der Hand.

»Guten Abend, Paddy«, sagte Mirko.

Entsetzen verzerrte die Gesichtszüge Clohessys. Mirko wusste, dass der Ire in diesem Augenblick an wilde Flucht dachte. Er stieß sich von der Wand ab und trat ihm in den Weg.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte er, bevor Clohessy seine Sprache wiederfinden konnte. »Es gibt ein Problem.«

Der andere starrte ihn an.

»Was denn für ein Problem, Mirko?«

»Lass uns wieder reingehen. Ich erklär’s dir drinnen.«

Clohessy schien wie erstarrt. Seine Pupillen zitterten. Bei Mirkos Anblick hatte er vermutlich an alles Mögliche gedacht, nur nicht daran, dass dieser ihn nach seiner Hilfe fragen würde. Er rührte sich nicht. Mirko legte ihm die Hand auf die Brust und schob ihn sanft zurück ins Innere.

»Warum läufst du hier eigentlich im Dunkeln rum?«, fragte er beiläufig.

»Kein besonderer Grund«, sagte Clohessy. Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich wollte nur…«

»Egal. Deine Sache.« Mirko ließ die Tür hinter ihnen zufallen und senkte die Stimme. »Das mit O’Connor ist gut gelaufen, wie ich höre.«

»Sehr gut. Ja, hätte nicht besser sein können.«

»Er hat dir geglaubt?«

»Auf jeden Fall!«

»Gut.« Mirko ließ eine dramaturgisch wirkungsvolle Pause verstreichen. »Ein Problem weniger. Dafür haben wir ein anderes. Es ist was schief gelaufen.«

»Und w… was?«

»Jana hat einen Testimpuls abgeschickt.«

Clohessy holte tief Luft. Dann stellte er den Koffer ab und straffte sich.

»Jetzt noch?«

»Ja. Sie sagt, das System habe nicht einwandfrei reagiert. In der Koordination des Zielspiegels mit dem Objektiv ist eine leichte Dissonanz aufgetreten. Jana meint, im Resultat hätten wir eine Abweichung von mindestens zwanzig bis dreißig Zentimetern. Ich brauche dir nicht zu sagen, was das bedeutet.«

Clohessys Züge sprachen Bände. Er überlegte ganz offenbar, ob Mirko die Wahrheit sagte. Hoffnung stahl sich in seinen Blick. Er runzelte die Stirn und kratzte seinen zerwühlten Schopf.

»Es können keine Dissonanzen aufgetreten sein«, sagte er langsam. Dann fiel ihm auf, dass es die dümmste aller Antworten war. »Das heißt, vielleicht doch«, fügte er atemlos hinzu. »Ich meine, es liegt definitiv nicht an der Mechanik, sie ist geschützt und funktioniert einwandfrei. Wenn, dann haben wir ein fehlerhaftes Signal in der Steuerung.«

»Jana fürchtet aber, es sei die Mechanik.«

»Unmög… ich weiß nicht. Ich muss mit Gruschkow sprechen.«

»Gruschkow ist in der Spedition. Wir hatten die gleiche Idee. Am besten, du kommst gleich mit mir.«

Clohessy trat einen Schritt zurück.

»Was ist denn los, Paddy?«, fragte Mirko ruhig. »Hast du Angst?«

»Warum sollte ich Angst haben?«

»Weil du Grund dazu hättest. Wäre das Gespräch mit O’Connor nicht so positiv verlaufen, hätten wir ernsthaft darüber nachdenken müssen, dich loszuwerden.«

»Ihr… habt darüber.«

»Natürlich. Was glaubst du?« Mirko lächelte. »Aber du hast Zeit gewonnen. O’Connor dürfte keine Gefahr darstellen. Beziehungsweise die Frau. Du kennst nicht zufällig ihren Namen?«

Clohessy schüttelte den Kopf.

»Egal. Mach dir keine Gedanken. Außerdem brauchen wir deine Hilfe. Es scheint eine unliebsame Tatsache zu sein, dass im letzten Moment irgendwas schief geht.«

»Was ist mit…«, begann Clohessy und bückte sich mit ausgestreckter Hand nach seinem Koffer. Dann besann er sich und richtete sich wieder auf.

»Du wolltest abhauen«, stellte Mirko fest.

»Nein, ich…«

»Du wolltest abhauen! Na und? Du hast keinen Grund, abzuhauen. Komm endlich, wir haben zu tun.«

Clohessy nickte zögerlich. Mirko registrierte, dass er sich entspannte. Er öffnete die Wohnungstür, ergriff den Iren am Ärmel und schob ihn hinaus in den modrigen Flur.

PARK

»Lass uns spielen.«

»Tun wir das nicht schon seit gestern?«

»Ja, aber dieses Spiel ist etwas anderes. Du wirst es lieben. Es heißt: Nutze die Zeit.«

»Ah! Carpe diem.«

»Carpe tempum. Weißt du, es gibt nur eines, was wir der Geschwindigkeit der Zeit entgegenhalten können. Das ist die Schnelligkeit, mit der wir sie nutzen. Darum geht‘s, verstehst du? Ergo gibt es in diesem Spiel nur eine einzige Regel.«

»Nämlich?«

»Nicht nachzudenken.«

»Verstehe. Und das Ziel?«

O’Connor schüttelte den Kopf.

»Es gehört zum Spiel, das Ziel nicht zu kennen, sondern zu erkennen, Kika. Alles, was du von jetzt an sagst oder tust, muss dir entströmen, ohne dass dein Verstand Schleusen einbaut. Du darfst platt sein, gebildet, pathetisch, blöde, albern, tragisch, elitär, derb, nur nachdenken darfst du nicht.«

Sie waren ein Stück unter den Bäumen hergelaufen und hatten den Teich umrundet. Auf der dunklen Restaurantterrasse gegenüber hatte sich eine Gruppe Teenager breit gemacht. Einige spielten auf mitgebrachten Bongos. Gedämpftes Lachen klang herüber. Dem Rhythmus der Trommler wohnte etwas Rituelles, Archaisches inne, das geeignet war, Regeln aufzuheben. Der Park lag keineswegs so verlassen da, wie es im Vorbeifahren den Anschein gehabt hatte. Dennoch war es, als hätten sich die Besitzer der wispernden Stimmen ringsum auf eine gemeinsam bewohnte Zone der Intimität geeinigt, in der man einander nicht störte, sondern Raum gab für kleine Wagnisse, Geständnisse und Abenteuer.

Vor ihnen lag eine Ansammlung dicht stehender Bäume. Der Weg führte mitten hinein.

»Erzähl schon«, forderte sie. »Wie geht dieses Spiel?«

»Jedes Mal anders.« O’Connor lächelte geheimnisvoll. »Es beginnt im Hier und Jetzt. Was folgt, ist, was du daraus machst.«

»Und wer gewinnt?«

»Auch das ist offen.«

»Du meine Güte. Also gut, spielen wir. Wer fängt an?«

»Du.«

»Okay. Was muss ich tun?«

»Beschreibe den augenblicklichen Zustand.«

»Hm.«

»Nicht überlegen!«

»Schon gut, schon gut! Warte. Äh… augenblicklich sind wir…«

»In einem Wort.«

Sie sah hinauf zum Himmel. Die Nacht war ungewöhnlich klar. Als bedürfe es nur eines Sprungs, um zu den Sternen zu reisen.

»Dunkelheit«, flüsterte sie.

O’Connors Augen funkelten.

»Peng! Urknall. Dunkelheit. Aneinanderreihung von Buchstaben, Unsinn, Sinn. Setzt sich fort. Das Dunkle, Finstere, Sinistre, Un- gestalte, Leere. Verklumpungen, Strukturen, Welten formen sich in der Dunkelheit. Hinzufügung von Licht. Licht… Licht… Feuer, Lagerfeuer! Menschen sitzen zusammen an einem Feuer in der Dunkelheit. Legenden und Geschichten. Erzählungen. Mythen. Die Alten, die… die Hutu… Hutu, genau, in der Mythologie der Hutu ist die Dunkelheit der Urzustand und der Idealzustand zugleich. Die Dunkelheit war allesbeherrschend gewesen, bevor die Götter die Welt hatten werden lassen in strahlendem Glanz. Aber weil die Götter mächtig waren, mussten sie auch die Dunkelheit erschaffen haben, mächtig, allmächtig waren sie! Mussten die Dunkelheit erschaffen haben noch vor der Welt.